Wie in Untertitel und Vorwort formuliert, geht es in der voluminösen Dissertation Christian Nilles weniger um die mittelalterliche Kathedrale als Artefakt. Vielmehr dienen Vorstellungen von und Deutungen der Kathedrale als Folie für ein Textformat, für das der Autor den Begriff der »produktiven Problemgeschichte« erfindet – dies in Anlehnung an Max Weber, dem »nicht die sachlichen Zusammenhänge der Dinge, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme« als Grundlage wissenschaftlicher Betätigung gelten (Zitat Weber, S. 32). Nille exemplifiziert Problemstellungen und Lösungsvorschläge der Kathedralforschung, um an ihnen Perspektiven kunsthistorischer Forschung zu veranschaulichen, deren Leistungsfähigkeit und Mängel zu beschreiben und schließlich für ein integratives Forschungsmodell zu werben. Es geht ihm essentiell um das Erzielen von »Fortschritt« in der Forschung, deshalb nennt sich seine Problemgeschichte eine »produktive«. Sie ist von großem aufklärerischem Impetus der Wahrheitsfindung getragen und somit das genaue Gegenteil eines Polyvalenz geltend machenden Überblicks. Der Autor hat nicht unwesentliche Anteile seines Materials in seinem handlicheren Einführungsband »Mittelalterliche Sakralarchitektur« (2013) bereits verarbeitet, dem ein sehr ähnlicher Tenor eignet
Nille beginnt seine »Hinführung zum Thema« mit der Darlegung einiger Grundlagen der Kunstgeschichte, die der hermeneutischen Objektanalytik (Springer, Sedlmayr, Ullmann, Binding) entstammen. Er deklariert sie als »weitgehend falsch oder unfruchtbar« und als »zweifelhaftes Durcheinander« (S. 27). Falls der Rezipient des Grundlagenkapitels an den paraphrasierten Kernaussagen keinen Anstoß nehme, sei die Notwendigkeit der vom Autor initiierten Aufklärung umso plausibler erwiesen. Freimütig bekennt Nille, der Leser sei hier Teil eines Experiments zum Nachweis unwidersprochener Wirkmächtigkeit unsinniger Aussagen in der Wissenschaft. Man kann diesen Umgang mit Wissensgeschichte und Leserschaft nicht eben feinfühlig nennen.
Es werden nun der kritisierten älteren Wissenschaftstradition der Kunstgeschichte neun eigene Thesen entgegengestellt, die durch stark simplifizierende Diagramme illustriert sind. Die Thesen kulminieren in Sentenzen zu der Frage, wonach eine kulturwissenschaftlich eingebundene Kunstgeschichte »verlange« (als sei sie als Subjekt sprachbefähigt). Die Forderungen kreisen um den Begriff der Reflexivität, womit im Spektrum des aktuellen Wissenschaftsjargons wohl am ehesten die Fähigkeit zur Außenperspektive auf den eigenen Standpunkt und die hieraus abzuleitende Innovationskompetenz gemeint sein dürften. Die Manifestfunktion der Thesen als Wegbereiter einer transdisziplinär nachdenkenden und agierenden Geisteswissenschaft ist offenkundig. Die zehnte These lautet: »Die Forschung zur mittelalterlichen Architektur vernachlässigt das bisher Ausgeführte in erheblichem Maße« (S. 49).
Den konstatierten Mangel der mediävistischen Architekturgeschichte an transdisziplinärer Reflexivität dokumentiert Nille nun im Format eines kritischen Parforce-Rittes durch die Forschungsgeschichte. Dieser beansprucht mit mehr als 600 Seiten den weitaus größten Raum des Bandes. Nille bezeichnet seine Darstellungsform als »dialogisch«, weil sie unter wechselnder Perspektive Revisionen von Positionen im Sinne eines Lernprozesses zulasse (S. 54). Nicht selten hat man freilich den Eindruck, ihm sei das Urteil wichtiger als der Dialog. Besprochen wird im Übrigen ausschließlich deutschsprachige Literatur, also die Sicht deutscher Forschung auf Werkkomplexe der alten Îlede-France und angrenzender Regionen. Begründet wird dies mit arbeitsökonomischen Argumenten und damit, dass ja »irgendwo ein Anfang gemacht werden« müsse (S. 53).
Auf den Prüfstand kommen Stilgeschichte (Dehio/Betzold, Jantzen, Springer), die ihr verpflichteten Autoren (Panofsky, Sedlmayr, von Simson), historisch-kulturwissenschaftliche Ansätze (Mentalitätsgeschichte, Postmoderne, Memoria, historische Diskursanalyse, Sozialisation, Praxeologie, Anthropologie/Leibtheorien, Gestaltpsychologie), Text-Kontext-Konzepte (Middle-Ground-Theorie, Sprechakttheorie, hermeneutische Ästhetik), politische Ikonologie (Bau und Überbau, Dekorum, Stillagen), religionsgeschichtliche Deutungen (Grueninger, Ohly), Architekturkopie und Zitat (Krautheimer, Bandmann, Kunst, Schenkluhn, Brückle) und topologische (Pieper) bzw. soziologische Raumforschung (Löw). Man kann dem Autor keineswegs vorwerfen, wichtige Wege der deutschen Mediävistik außer Acht gelassen zu haben. Dass deren Verflechtungen mit fremdsprachigen Wissenstraditionen nicht deutlich werden, ist der pragmatischen Korpusbeschränkung geschuldet. Dem Denken Panofskys gilt ein besonderes Interesse. Nille kommt in drei langen Passagen auf den Nestor der Bedeutungsforschung zurück und erörtert dessen Anschlussfähigkeit an jüngere Konzepte.
Stephan Albrechts »Inszenierung der Vergangenheit im Mittelalter« (2003) weist Nille eine besondere Rolle als eine Art Experimentierwerkstatt zu, an deren Material versucht wird, durch die Integration aktueller Perspektiven und korrigierender Eingriffe »Verbesserungsvorschläge zu machen. Dies soll auch als Beispiel dafür fungieren, wie gezielt wissenschaftlicher Fortschritt zu erreichen ist« (S. 451). Spätestens an diesem Punkt wird dem Leser klar, worauf Nilles Dissertation abzielt: auf einen »Syntheseversuch der wissenschaftlichen Grundkonstitutionen nach Karl Popper« (S. 663), der gangbare Wege wissenschaftlichen Fortschritts über den Gegenstandsbereich der Dissertation hinaus aufzeigen soll. Dieser Versuch füllt das Schlusskapitel des Buches. In enger – diesmal bemerkenswert widerspruchsloser – Anlehnung an Poppers Kritischen Rationalismus und dessen Instrument der Falsifizierung deduktiver Aussagen entwirft Nille einen Forschungsansatz, der die von ihm ausgiebig evaluierten architekturhistorischen Deutungen nach Ausmerzen ihrer jeweiligen Fehler ebenso umfassend synthetisieren und auf diese Weise nachprüfbaren Wissensfortschritt generieren soll.
Projiziert auf den weiten Horizont der Wissenschaftstheorie, versteht Nille den Gang der Forschung im Sinne Poppers als einen Weg des trial and error, auf dem sich die Kunstgeschichte der Wahrheit durch sukzessives Aussondern des Falschen und Stärken des Zutreffenden annähern sollte. Die hermeneutische Idee, dass Positionen der Forschungsgeschichte jenseits ihres Falsifizierens und Verifizierens kulturell stimulierte Perspektiven auf die Artefakte sind, deren Gültigkeit nicht allein trennscharfen Kriterien des Richtigen und des Falschen unterliegen, hat in diesem Entwurf wenig Chancen.
Nilles Feldzug gegen eine wissenstheoretisch schwach aufgestellte Kunstgeschichte – es geht um die Disziplin im Ganzen, die Mediävistik der Architektur ist lediglich die Wunde, in die Nille den Finger legt – kommt mit großem Anspruch und selbstbewusst daher. Ihre Diagnosen werden Nachdenklichkeit hervorrufen und die Standortbestimmung des Fachs zweifelsfrei anregen. Ob das Fach Nilles Vorstellungen folgen und sich Poppers Rationalismusverständnis in der vom Autor vorgeschlagenen Grundsätzlichkeit zu Eigen machen wird, bleibt angesichts der starken Affinität der Kunstgeschichte zu induktiven, gegenstandssichernden Methodologien abzuwarten.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Norbert Nußbaum, Rezension von/compte rendu de: Christian Nille, Kathedrale – Kunstgeschichte – Kulturwissenschaft. Ansätze zu einer produktiven Problemgeschichte architekturhistorischer Deutungen, Frankfurt a.M. (Peter Lang Edition) 2016, 870 S. (Europäische Hochschulschriften. ReiheXVIII, 443), ISBN 978-3-631-67608-0, EUR 129,00. , in: Francia-Recensio 2017/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43429