Das anzuzeigende Werk geht auf einen Studientag zurück, der am 08.10.2010 in Nancy stattfand und Lothringen unter dem Blickwinkel »Originaux et cartulaires« in den Fokus rückte. Die nun publizierten Forschungsergebnisse stehen im Kontext der modernen Chartularforschung, die in Frankreich schon in anderen Regionen erprobt wurde (vgl. die Bände zum Midi1 sowie zur Normandie2 ) und auch in Deutschland vermehrt an Bedeutung gewinnt3.

Der Band ist in drei inhaltliche Teile gegliedert (»Cartulaires monastiques«, »Cartulaires laïques«, »La transcription des actes dans les cartulaires: approches transversales«), die von einer Einleitung und einer Schlussbemerkung fankiert werden. Den Abschluss bilden ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Orts- und Personenregister.

In seiner Einleitung betont Jean-Baptiste Renault (S. 9–34), dass die Grundlage der Erforschung von Kopialbüchern deren Funktion als Spiegel, Filter und Maske des Ausgangsarchivs ist, und fordert eine vermehrte Besinnung darauf. Zu lange seien sie zur bloßen Texterstellung bei verlorenen oder unvollständigen Originalen herangezogen worden. Ziel des Bands ist es, durch die Konfrontation der Chartulare mit noch vorhandenen Originalen »replacer le cartulaire au milieu de la chaîne de la tradition documentaire dont il est souvent sorti« (S. 33). Damit sollen die Chartulare als eigenständige Überlieferungsträger sowie deren Schreiber bzw. Auftraggeber als ebenso eigenständige und zeitgebundene Akteure ins Licht gerückt werden.

Den Teil zu monastischen Chartularen leitet Jean-Pol Évrard (S. 37–58) mit seiner Untersuchung des Kopialbuchs der Abtei Saint-Paul in Verdun ein. Hier legt er erste Ergebnisse in Vorbereitung der Edition des Chartulars vor, das schon durch seinen Umfang von 290 Seiten mit 629 Dokumenten beeindruckt und dessen lange Verwendungszeit bis ins 17. Jahrhundert das Interesse der Forschung wecken muss. Kern der Untersuchung bilden kodikologische Beschreibung, Überlegungen zu Schreibern und möglichen Vorlagen sowie zum inhaltlichen Aufbau. Detailliert geht er auf die 104 enthaltenen Papsturkunden ein und listet diese regestenhaft auf.

Timothy Salemme (S. 59–80) setzt in seinem Beitrag an einem neuralgischen Punkt der Geschichte des Zisterzienserordens an: Im Streit um die exemte Stellung des Ordens zu Beginn des 14. Jahrhunderts entstand ein »Liber privilegiorum« genanntes Bullarium, von dem sich bis heute Abschriften aus verschiedenen Abteien erhalten haben. Der Autor betont, dass diese Tradition ein komplexes Phänomen des Gesamtordens darstellt, dem man sich verstärkt aus der Perspektive der Einzelexemplare nähern sollte, und widmet sich in der Folge dem Exemplar aus Épinal, dessen Provenienz allerdings ungeklärt bleibt.

Der Teil »Cartulaires laïques« wird eröffnet von Léonard Dauphant (S. 83–94). In seinem Beitrag geht er sowohl auf die Nutzung und Konservierung der Originale als auch auf den Aufbau der Archive ein. Dafür wählt er den lange währenden Konfikt der Herzöge mit den Herren von Neufchâtel und das in dieser Zeit von Barer Seite erstellte Dossier aller im Konfikt relevanten Dokumente in Abschriften. Besonders interessant ist dabei, dass es sich nicht auf die im eigenen Archiv vorhandenen Dokumente beschränkt, sondern auch Abschriften aus Archiven der Region dafür angefertigt wurden. Später wurden sogar Dokumente aktueller Verhandlungen hinzugefügt, womit ein neues Dokument mit juristischer Dimension entstand. Zusammenfassend betont Dauphant, dass die Zeit der Herrschaft der Renés viel zu häufg als Zeit zwischen den großen mittelalterlichen Chartularen und jener des Thiérry Alix im 16.Jahrhundert gesehen und in seiner Bedeutung unterschätzt wurde. Er sieht diese Zeit vielmehr als Beginn moderner Administration in der Region.

Der Beitrag von Mathias Bouyer (S. 94–129) setzt dort an und nimmt die Chartulare in den Blick, die Thierry Alix im 16.Jahrhundert für Herzog Karl III. anfertigte und die vor allem aufgrund ihres Umfangs von 28 Bänden zu den bekanntesten in Frankreich gehören, allerdings noch nicht eigenständig untersucht wurden. In Bezug auf sein Fallbeispiel – das Chartular von Pontà-Mousson – kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass es sich um ein Kanzleichartular handle, das der herzoglichen Verwaltung als Nachschlagewerk gedient und im Zweifel möglicherweise sogar Rechtscharakter aufgewiesen habe. Zur Einordnung und Differenzierung dieser Ergebnisse bedürfe es allerdings weiterer solcher Fallstudien für die anderen Bände des Chartulars. Der Beitrag wird ergänzt durch Regesten aller 69 Urkunden des Chartulars.

Jean-Christophe Blanchard (S. 131–159) untersucht das bisher weitestgehend unbekannte Kopialbuch des Nicolas de Lutzelbourg, das als Fallbeispiel für die Entstehung landesherrlicher Chartulare im 16.Jahrhundert dienen könne, allerdings wenig zur Kernfrage des Bandes beitrage, da die meisten Originale als verschollen gelten müssen. Leider fehle eine kodikologische Beschreibung, da der aktuelle Aufenthaltsort des Chartulars unbekannt sei und nur ein Mikroflm als Grundlage gedient habe. Die inhaltliche Auswertung ist umso ausführlicher: Der Autor konstatiert eine geografsche Anordnung der Stücke, die sich vor allem um Grundstücksfragen im Herrschaftsbereich drehen. Blanchard resümiert, dass sich aus der Untersuchung des Chartulars wichtige Erkenntnisse zu Art und Zweck der Archivpraxis lothringischer Herren im 16. Jahrhundert ergeben. Der Beitrag schließt mit Regesten der 85 Urkunden des Chartulars.

Der dritte Teil wählt einen vergleichenden Zugang, indem über einen Querschnitt mehrerer Chartulare die Frage der Transkription der Urkunden in die Kopialbücher thematisiert wird. Katharina Gross (S. 163–173) stellt fest, dass in den von ihr untersuchten Beispielen – analog zu Salemme in Bezug auf äußere Merkmale der Papsturkunden – fast keine Hinweise auf Chirografen in den Kopialbüchern vermerkt wurden. Anschließend widmet sich Pierre-Henri Billy (S. 175–190) der Übertragung von Eigennamen in vergleichender Perspektive in einem Korpus von 85 Originalen und ihren Abschriften in neun verschiedenen Chartularen des 12.–16. Jahrhunderts. Dieser interdisziplinäre Ansatz ist insofern innovativ, als er die Übertragung der Eigennamen auf diplomatischer, grafscher, grafo-phonetischer und morphologischer Ebene detailliert untersucht und auch Romanisierungen bzw. Latinisierungen in den Blick nimmt.

Den Abschluss des vergleichenden Teils bilden Dumitru Kihaï und Marius Beerli (S. 191–206) mit einer linguistischen Untersuchung volkssprachlicher Urkunden des 13.Jahrhunderts – bisher ein Desiderat der historischen Linguistik. Die original überlieferten dokumentarischen Quellen bieten die Möglichkeit, die Sprache des Entstehungskontextes zu untersuchen. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass die Barer Kopisten bei herzoglichen Urkunden die Abschriften dem aktuellen Sprachgebrauch anglichen und bei Urkunden anderer Aussteller zur Anpassung an die herzogliche Urkundensprache tendierten. Es wird deutlich, dass die vergleichende Untersuchung der Schriftsprache eine wertvolle Ergänzung zu klassischen diplomatischen Fragen darstellen kann.

Laurent Morelle (S. 207–214) verbindet konzise Fragen der Chartularforschung mit den Ergebnissen des vorliegenden Bandes, fasst zusammen und zeigt neue Perspektiven auf, sodass seine knappen »Conclusions« gleichermaßen als Einführung wie als Ausgangspunkt und Zusammenfassung aktueller Fragen zu Kopialbüchern, ihrer Entstehung und Verwendung dienen können.

Mit dem vorliegenden Band wurde eine quellenreiche Region für die moderne Chartularforschung erschlossen und deren vielfältiges Erkenntnispotenzial für die Diplomatik, aber auch weit darüber hinaus aufgezeigt. Eine im Vergleich zu andere Gegenden des heutigen Frankreich bessere Überlieferungslage bei den Originalen ermöglicht es diesem Band, große Teile der Kopialbücher in ihren erweiterten Überlieferungskontext einzuordnen. Der bewusst lang gewählte Zeitraum erweitert zum einen die Untersuchungen auf das häufg vernachlässigte 16.Jahrhundert und macht zum anderen Veränderungen in der Entwicklung administrativer Strukturen sichtbar. Durch den konzeptionellen Rahmen von Renault und Morelle entsteht eine Fokussierung der Einzelbeiträge, die deren Ergebnisse gut vergleichbar macht. Dennoch bleiben einige Aufsätze noch an der Oberfäche und präsentieren vor allem erste Ergebnisse ausführlicherer Studien. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Band nur den Auftakt zu weiteren Forschungen in der Region und darüber hinaus bildet.

1 Daniel Le Blévec (Hg.), Les cartulaires méridionaux. Actes du colloque de Béziers, 2002, Paris 2006.
2 Les cartulaires normands. Bilan et perspectives de recherche (Actes de la table ronde tenue à Caen les 3–4 avril 2009), verfügbar unter: http://www.unicaen.fr/ mrsh/craham/revue/tabularia/view.php?dir=dossier9 (Zugriff: 05.11.17).
3 Z. B. Nicolangelo D’Acunto, Wolfgang Huschner, Sebastian Roebert (Hg.), Originale – Fälschungen – Kopien. Kaiser- und Königsurkunden für Empfänger in »Deutschland« und »Italien« (9.–11.Jahrhundert) und ihre Nachwirkungen im Hoch- und Spätmittelalter (bis ca. 1500) (Italia Regia. Fonti e ricerche per la storia medievale, 3), Leipzig, Karlsruhe 2017.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Robert Friedrich, Rezension von/compte rendu de: Jean-Baptiste Renault (dir.), Originaux et cartulaires dans la Lorraine médiévale (XIIe –XVIe siècles). Recueil d’études, Turnhout (Brepols) 2016, 245 p., 32 ill. (ARTEM. Atelier de recherches sur les textes médiévaux, 24), ISBN 978-2-503-56756-3, EUR 75,00., in: Francia-Recensio 2017/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43430