Das kunsthistorische Interesse an dem »Nachleben« der Antike im Mittelalter scheint seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts ungebrochen1 . Die beinahe unüberschaubare Fülle an sowohl altbewährten als auch jüngeren Forschungen hat hierbei mehrere »mittelalterliche Renaissancen«2 ausfindig machen und zu definieren versucht: »karolingische Renaissance«, »Renaissance des 12.Jahrhunderts« und auch Protorenaissance. Im Fokus der vorliegenden Arbeit von Laurence Terrier Aliferis steht nun die Antikenrezeption bzw. genauer gesagt die »imitation de l’Antiquité« in der Kunst zwischen 1180 und 1220 – jenes sogenannten »Style 1200«, der sich um 1180 nördlich der Alpen entwickelte. Diese Kunst sei, so Florens Deuchler im Vorwort des Katalogs der namensgebenden Ausstellung »The Year 1200« am Metropolitan Museum of Art (1970), »the result of an amalgam of French, Flemish, Mosan, and Byzantine ingredients with a whiff of antique«3. Dieser »Hauch der Antike« stand zwar bereits bei einer Reihe von Einzelunterschungen – vor allem zu Nikolaus von Verdun – im Vordergrund4, doch blieb eine systematische Untersuchung der Antikenrezeption des »Style 1200« bislang aus. Diesem Desiderat hat sich nun Laurence Terrier Aliferis in ihrer 2011 an der Universität Genf angenommenen Dissertation gestellt und, um es vorweg zu sagen: Dies ist kein leichtes Unterfangen. Nicht nur, dass damit ein besonders großes geografisches Feld zu erschließen ist, sondern auch unterschiedliche Gattungen und Funktionen. Umso verständlicher ist es daher, dass sich die Verfasserin vor allem auf die Vorlagen und Modelle konzentriert, die von den Künstlern in dieser Zeit verwendet wurden, verbunden mit der Frage nach den dahinterstehenden Absichten und Bedingungen (S. 19).
Die Arbeit ist in fünf Kapitel gegliedert. Eine umfangreiche Einleitung verdeutlicht die Problemstellung und entwirft allgemeine Überlegungen zum Begriff der imitatio. Im Anschluss daran folgen drei Kapitel zu jeweils einer künstlerischen Technik (Goldschmiedekunst, Skulptur und Malerei), die damit die Entwicklung des »Style 1200« aufgreifen. Diesem entsprechend steht in einem sehr ausführlichen zweiten Kapitel zunächst die Golschmiedekunst im Zentrum (S. 43–84), genauer gesagt Nikolaus von Verdun, der als »l’initiateur d’un style nouveau« am Beginn der Entwicklung dieses Stils steht. Im dritten Kapitel zur Skulptur (S. 85–122) werden zunächst die Einflüsse der maasländischen Kunst in Laon, Sens und Braine nachvollzogen sowie in einem weiteren Schritt die Arbeiten der Bildhauer etwa von Chartres, Paris, Reims, Halberstadt und Straßburg und ihre Herleitung aus den antiken Relikten untersucht. Das vierte Kapitel (S. 123–134) behandelt die Malerei, vor allem den Ingeborg-Psalter, bevor in einem abschließenden fünften Kapitel (S. 135–152) die Frage der Antikenrezeption sowie die (unterschiedlichen) Nachahmungsprozesse der Antike in der Kunst um 1200 zusammengefasst werden.
Ohne die einzelnen Ergebnisse sowie die zahlreichen herangezogenen Vorlagen unterschiedlicher Gattungen und Techniken an dieser Stelle ausführlicher diskutieren zu können oder bewerten zu wollen – zumal die Frage der »Ähnlichkeit« und »Unähnlichkeit« ein grundsätzlich zu diskutierendes bildwissenschaftliches Problem darstellt –, ist vor allem der von Terrier Aliferis verwendete Begriff der imitatio hervorzuheben, mit dem sie die Antikenrezeption in der Kunst um 1200 genauer zu beschreiben versucht (S. 31–37). Dieser Begriff impliziere nämlich, so die Autorin ausgehend von der lexikalischen Verwendung des Begriffs im 12.Jahrhundert, dass es nicht nur um bloße Nachahmung der antiken Vorlagen und Modelle gehe, sondern (zunehmend) um eine freie Aneignung sowie die künstlerische Auseinandersetzung und Neuinterpretation von Werken der Vergangenheit oder Gegenwart (S. 41)5.
Insgesamt zeichnet die Verfasserin mit diesem Buch ein breites Panorama der Antikenimitatio in der Kunst um 1200, das jedoch an der einen oder anderen Stelle Vertiefung verdient oder Mut auf Verzicht erfordert hätte. Denn so kann man trotz oder aufgrund der großen Bandbreite und der überzeugenden gattungsspezifischen Aufteilung, die die Verfasserin liefert, durchaus den Einwand erheben, dass der Arbeit eine stärkere Differenzierung nach Funktionen, Kontexten und geografischen Gesichtspunkten gut getan hätte, zumal die Rezeption antiker Werke je nach Funktion und geografischer Lage unterschiedliche Beweggründe und Ausprägungen haben kann. Auch die Gewichtung einzelner Orte und Objekte wirft Fragen auf, wenn etwa Notre-Dame de Paris im Gegensatz zur ausführlichen Analyse von Reims äußerst knapp besprochen oder die Malerei beinahe stiefmütterlich gegenüber der Goldschmiedekunst und der Skulptur verhandelt wird. Gleichwohl ist Terrier Aliferis mit dem Band ein insgesamt überzeugender und grundlegender Überblick gelungen, der sich – begleitet von einem umfassenden Index und rund 350 Schwarz-Weiß-Abbildungen von guter Qualität – bestens als Ausgangspunkt zur Erschließung des »Style 1200« und auch der Antikenrezeption des Mittelalters eignet.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jeannet Hommers, Rezension von/compte rendu de: Laurence Terrier Aliferis, L’imitation de l’Antiquité dans l’art médiéval (1180–1230), Turnhout (Brepols) 2016, 443 p., 359 ill. en n/b (Répertoire iconographique de la littérature du Moyen Âge. Les études du RILMA, 7), ISBN 978-2-503-55317-7, EUR 125,00., in: Francia-Recensio 2017/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43434