Die Untersuchung über die Bedeutung Gratians, des »father of the science of canon law«, als Theologe geht von den neuen Erkenntnissen aus, die man seit dem Ende der 1990er Jahre zur Überlieferung der »Concordia discordantium canonum« gewonnen hat1. John C.Wei legt diese in seiner umfangreichen Einleitung detailliert dar und begründet damit zugleich auch, dass er seiner Untersuchung die erste Rezension des »Decretum Gratiani« zugrunde legt, die einen kürzeren und kohärenteren Text wiedergibt als die spätere Langform, die in der bisher noch maßgeblichen Edition von Emil Friedberg im ersten Band des »Corpus iuris canonici« anzutreffen ist. Immer noch kontrovers diskutiert wird in der Forschung die Version in der Hs. St. Gallen, Stiftsbibliothek, 673, die, wie von Carlos Larrainzar vertreten, eine Vorstufe der von Anders Winroth identifizierten ersten Rezension überliefern soll2. Wei hingegen vertritt die Auffassung, dass es sich dabei um eine verkürzte oder veränderte Version der ersten Rezension mit Ergänzungen aus der zweiten Rezension handelt (S. 28). Ebenso bestätigt Wei mit seinen Untersuchungen Winroths Annahme, dass »Gratian I« als Verfasser der kürzeren ersten, mehr an der Theologie ausgerichteten Fassung des Dekrets auch als Person von »Gratian II« als dem Urheber der späteren, längeren Fassung zu unterscheiden sei.

Die Bedeutung der Theologie in Gratians Werk untersucht Wei an drei thematischen Schwerpunkten: dem Stellenwert der Bibel im Dekret, der Bedeutung Gratians als Bußtheologe und schließlich anhand seiner Aussagen zu Sakramenten und Liturgie. Damit orientiert er sich an jenen Aspekten, die auch die Verfechter einer in dieser Epoche noch keineswegs selbstverständlichen Unterscheidung von Kirchenrecht und Theologie in zwei verschiedene akademische Disziplinen im Laufe des 12. und 13.Jahrhunderts als theologische Fragen im eigentlichen Sinne definierten (vgl. S. 9).

Als Resultat seiner Untersuchung bietet Wei auch neue Erkenntnisse über Gratians intellektuellen Hintergrund und über die Ziele, die dieser wohl in den 30er und 40er Jahren des 12.Jahrhunderts in Bologna tätige Lehrer, der vielleicht Mönch und möglicherweise (auch) Bischof von Chiusi war3, mit der ersten Rezension seines Buches verfolgte. Gratian sei ein »sophisticated thinker« gewesen, habe sich jedoch insgesamt nur für einige wenige Felder der Theologie interessiert. Er verfügte über tiefgreifende Bibelkenntnisse und zeigte großes Interesse an theoretischen Fragen der Bußtheologie, deren Behandlung ungefähr 10% der ersten Rezension einnimmt. An anderen potenziell theologischen Fragen, wie etwa der Sakramentenlehre, lässt Gratian hingegen nur geringes Interesse erkennen und die Liturgie wird in seinem »textbook« eher vernachlässigt. Diese unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen führt Wei zum einen auf den »italienischen Hintergrund« Gratians zurück, der maßgeblich von der Theologie seines Umfelds geprägt gewesen sei, zum anderen aber auch auf sein ursprüngliches Konzept für die »Concordia discordantium canonum«, die erst der Redaktor der zweiten Rezension zu einer umfassenden Kompilation des Kirchenrechts erweitert habe.

Wei bezeichnet Gratian als »Exegeten«, dessen Bibelkenntnisse an der »Glossa ordinaria« geschult waren und insgesamt großen Einfluss auf sein Werk ausübten. Gratian habe die Bibel, die er mit dem Naturrecht in eins setzte und ausführlich zitierte, zwar als höchste Autorität geschätzt, sich aber auch gezwungen gesehen, ihre Aussagen mit zeitgenössischen Moralvorstellungen in Übereinstimmung zu bringen. Zudem nutzte Gratian biblische Texte und Kommentare, um Aspekte des Kirchenrechts zu ergänzen und zu modifizieren – wie etwa überraschenderweise in besonderem Maße das Verfahrensrecht, aber auch zur Strukturierung zahlreicher Abschnitte des Dekrets.

Mit dem Traktat »De penitentia« brachte Gratian die scholastische Bußtheologie in sein sonst eher kanonistisch geprägtes Werk ein und ging dabei auch hier methodisch so vor, dass er anhand der Texte sorgfältig pro und contra erwog. Seine Lehrpositionen glichen denen der zeitgenössischen Schulen im nordfranzösischen Raum, auch wenn er sie zum Teil auf anderen Wegen erreichte. Als Motiv für die Abfassung dieses Traktats, der offenkundig entstand, bevor er in das Dekret eingefügt wurde, erkennt Wei den Wunsch Gratians, jenen seit den Zeiten des Neuen Testaments eingetretenen »dramatischen Veränderungen« in der Bußpraxis und -theologie einen Sinn zu verleihen. Das Kernstück dieses Traktats mit den Distinktionen 2 bis 4 verfasste er jedoch vor allem mit dem Ziel, Ansichten zu kritisieren und zu korrigieren, die seine Zeitgenossen vor allem in Italien in ihren scholastischen Werken vertraten. Dies zeigt sich auch daran, dass »De penitentia« keinen umfassenden Bußtraktat enthält, sondern vor allem auf kontroverse Themen abzielt.

Dazu zog Gratian neben dem pseudo-augustinischen Traktat »De vera et falsa penitentia« auch, wie Wei schon in früheren Untersuchungen zeigen konnte, die beiden anonymen Trakatate »Ut autem hoc evidenter« und »Baptizato homine« heran, die mit der Schule Anselms von Laon in Verbindung gebracht werden. Auch wenn keine neuen Informationen zur Biografie Gratians zu erwarten sind, liefert die Rezeption dieser Texte durch Gratian doch weitere Erkenntnisse über seinen intellektuellen Hintergrund. Wie Wei ebenfalls schon in einem früheren Beitrag aufzeigte, kann die verbreitete Ansicht, Gratian sei bei dem Versuch, widersprüchliche Autoritäten miteinander in Einklang zu bringen, von der scholastischen Methode Abaelards beeinflusst gewesen, nicht aufrecht erhalten werden. Vielmehr weist das Dekret deutlichere Bezüge zu den bereits genannten anonymen Schriften der Schule von Laon auf.

Gratian trug auch dazu bei, dass Magie und Aberglaube weiterhin im Fokus von Juristen und Beichtvätern standen, versuchte dabei jedoch zugleich, auch einen neuen, theologisch begründeten Rahmen für die Analyse dieser kirchenrechtlichen Vergehen zu schaffen. An diesem Beispiel zeigt sich auch, dass Gratians »Concordia discordantium canonum« gegenüber der Behandlung dieser Themen etwa im »Decretum« Burchards von Worms († 1025), der ja zuletzt auch als systematischer Denker charakterisiert wurde4, eine schon weiter fortgeschrittene Stufe in der Entwicklung des Kirchenrechts darstellt. Wie die genauere Analyse der für diese Fragen zentralen »Causae« 33 und 26 zeigt, ging es Gratian jedoch offensichtlich weniger um die inhaltliche Behandlung von Magie und Aberglauben, sondern darum, einen Anlass zu finden, um den Traktat »De penitentia« in die Causa-Struktur des Dekrets einzufügen. Dies sei nicht zuletzt daran zu erkennen, dass es sich hier um einen erkennbar konstruierten imaginären Fall handelt, an den fünf Fragen geknüpft werden, die eigentlich kaum etwas mit Magie und Zauberei zu tun haben. Im Unterschied zu den normalerweise ziemlich realistischen Fallbeschreibungen in Gratians Dekret dienten solche »unrealistischen Fälle« mehr als organisatorisches denn als analytisches Werkzeug. Ihre Hauptaufgabe bestehe nicht darin, Verständnis für das Rechtsproblem und seine Folgen zu wecken, sondern Themen des Kirchenrechts zur Betrachtung einzuführen (S. 193). Dementsprechend fügte Gratian nicht eine Diskussion über Buße in eine schon bestehende und unabhängig konzipierte C. 33 ein, sondern schuf C. 33, um einen in weiten Teilen schon bestehenden, unabhängigen Traktat über Buße in das Dekret einzufügen (S. 195).

Durch seine eindringliche und differenzierte Analyse hat John Wei die inhaltliche Gratianforschung einen entscheidenden Schritt vorangebracht, ohne dabei die überlieferungsgeschichtlichen Aspekte aus dem Blick zu verlieren. Sein Arbeit liefert ein wichtiges Fundament, um auch im Vergleich zu den ihm nachfolgenden kirchenrechtlichen Sammlungen und Kommentaren, die auf dem Dekret aufbauen, den Anteil der Theologie in diesem kirchenrechtlichen Grundlagenwerk5, im Detail näher zu bestimmen.

1 Anders Winroth, The Making of Gratian’s Decretum, Cambridge 2000 (Studies in Medieval Life and Thought).
2 Carlos Larrainzar, La formación del Decreto de Graciano por etapas, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 87 (2001), S. 67–83.
3 Zu den immer noch geringen Kenntnissen der Forschung über Gratians Biografie vgl. Kap. 1.1. (S. 17–20).
4 Vgl. Greta Austin, Shaping Church Law Around the Year 1000. The Decretum of Burchard of Worms, Farnham 2009 (Church, Faith and Culture in the Medieval West).
5 Vgl. dazu Peter Landau, Gratian and the Decretum Gratiani, in: Wilfried Hartmann, Kenneth Pennington (Hg.), The History of Medieval Canon Law in the Classical Period 1140–1234. From Gratian to the Decretals of Pope Gregory IX., Washington, D. C. 2008, S. 22–54.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Lotte Kéry, Rezension von/compte rendu de: John C. Wei, Gratian the Theologian, Washington, D. C. (The Catholic University of America Press) 2016, XVIII–353 p. (Studies in Medieval and Early Modern Canon Law, 13), ISBN 978-0-8132-2803-7, USD 65,00., in: Francia-Recensio 2017/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017. 4.43437