Die Ausstellung, deren Katalog hier anzuzeigen ist, thematisierte Kunstwerke aus der zweiten großen Bauphase der Entstehungsgeschichte des Straßburger Münsters. Diese Kampagne nahm das ganze erste Drittel des 13. Jahrhunderts in Anspruch und betrifft grosso modo die auf dem mittleren und obersten Niveau liegenden Teile des südlichen Querhausarms sowie dessen Fassade mit ihrer bildhauerischen Ausstattung, wozu auch der sogenannte Engelspfeiler im Inneren dieses Querhausfügels gehört. Zu diesem Baubestand des Münsters zählt auch das Westmassiv der Straßburger Thomaskirche, das (wie aufgrund seiner stilistischen Erscheinung und der Steinmetzzeichen zu schließen ist) von Werkleuten errichtet wurde, die in engster Verbindung zur Münsterbauhütte standen oder ihr sogar angehörten. Die Ausstellungsmacher haben sich bemüht, möglichst viele originale Stücke aus der künstlerischen Produktion der Münsterbauhütte selbst sowie solche aus ihrem historischen und stilgeschichtlichen Umfeld zu vereinen; wo es nicht anders ging, hat man sich verständlicherweise mit Gipsabgüssen oder Fotografen beholfen. Zu den gezeigten Highlights zählten unter anderem das Kreuzreliquiar aus Mettlach (um 1220, Kat. 24); Fragmente vom Lettner der Kathedrale zu Chartres (um 1220, Kat. 27 und 28); das aus Straßburg stammende Homiliar (11.Jh.) der Berner Burgerbibliothek (Kat. 36) mit dem liturgischen Corpus, der, wie Jean-Philippe Meyer entdeckt hat, die textliche Vorlage für das Skulpturenprogramm der Südfassade enthält; die Köpfe der in der Revolution zerstörten Gewändestatuen der Südportale, unter denen das Haupt des hl.Johannes Evangelista (um 1220, Kat. 43 und Abb. S. 169) wegen seiner besonderen Anmut besonders hervorsticht (in Privatbesitz), und schließlich der berühmte Onyx von Schaffhausen (Kat. 67) aus dem Museum Allerheiligen (ca. 20 n. Chr. und ca. 1230). Zusammen mit vielen anderen ergaben diese Stücke ein repräsentatives Bild der »Gotik« des ersten Drittels des 13.Jahrhunderts.

Doch was heißt hier »Gotik«? Der Untertitel von Ausstellung und Katalog ist in mehrfacher Hinsicht irreführend. Die Bezeichnung »Gotik« für die Kunst vom 12.Jahrhundert bis zum Ende des Mittelalters – an sich schon ein auf gewisse italienische Frühhumanisten zurückgehender historiografscher Missgriff – ist im vorliegenden Zusammenhang doppelt problematisch, weil sie exakt die Phase der mittelalterlichen Kunst betrifft (ca. 1200–ca. 1230), in der die Bildkünste eine besondere Nähe zur Kunst der Antike (besonders zu derjenigen der römischen Kaiserzeit) suchten. Im Hinblick auf die den Körpern eng anliegenden oder sich in zahlreiche weiche Falten legenden Gewänder der Figuren aus dem frühen 13.Jahrhundert spricht die Kunstgeschichte vom »antikisierenden Stil« oder auch das Phänomen beschreibend vom »Mulden(falten)stil«, oder periodisierend vom »style 1200«. Zwar ist im Katalog ein aufschlussreicher Beitrag generell zu diesem Thema zu lesen (Laurence Terrier Aliferis), aber der kunsthistorische Laie sucht vergeblich nach einer Aufösung des begriffichen Widerspruchs.

Völlig verfehlt ist indessen im vorliegenden Zusammenhang die Bezeichnung der »Kunst um 1200« als »Revolution«. Versteht man unter diesem Begriff im landläufgen Sinn einen nachhaltigen, abrupt erfolgten Wandel eines Systems, so fndet in Straßburg von 1200 bis 1230 zumindest im Sektor Architektur, aber auch teilweise in der Bildkunst, genau das Gegenteil statt, nämlich eine langsame Durchdringung der altgewohnten Gestaltungsweise der Romanik durch Formen, die der französischen Gotik entnommen werden. Fast alle Aufsatzbeiträge des Katalogs bekräftigen diese These. Wenn Bischof und Domkapitel in Straßburg ab dem letzten Viertel des 12.Jahrhunderts ihre Kathedrale im Stile der rheinischen Spätromanik erneuern, so geschieht dies auf den Fundamenten des Vorgängerbaus, dessen Volumen beibehalten wird. Zu Recht spricht Jean-Philippe Meyer in seinem Beitrag zur Baugeschichte von einer »infuence persistante de la cathédrale ottonienne«. Zwar ist, wie Sabine Bengel überzeugend darlegt, die antikisierende Skulptur des Querhauses eng verbunden mit Vorbildern verschiedener französischer Kunstzentren (Chartres, Sens, Reims), aber diese im Elsass fremdartige Skulptur tritt nicht »revolutionär« auf, weil sie sich in den von der Spätromanik bestimmten architektonischen Rahmen harmonisch einfügt. Wie die Analysen von Jean Delivré ergaben, muss die Farbigkeit dieser französischen Skulptur sehr zurückhaltend aufgetragen gewesen sein, sie sollte sich also nicht knallbunt vordrängen, sondern diskret einfügen. In der Glasmalerei der Ostteile des Straßburger Münsters, der Daniel Parello einen Beitrag widmet, fnden sich romanische Muster zusammen mit Bildern nach französischen Vorlagen in friedlicher Koexistenz. Marc Carel Schurr legt eindrücklich dar, dass die Westteile der Straßburger Thomaskirche nichts anderes sind als ein in gotischen Formen errichtetes karolingisches Westwerk. Ein halbes Jahrhundert früher hatte man im nahen Maursmünster/Marmoutier ein ebensolches Westwerk errichtet, allerdings der Bauzeit entsprechend noch in rein romanischen Formen. Wo man hinsieht, erblickt man im Elsass des frühen 13.Jahrhunderts Monumente, die der Traditionspfege verpfichtet sind. Wie der Historiker Bernhard Metz in seinem Beitrag zum Katalog ausführt, bleibt Straßburg während des ersten Drittels des 13.Jahrhunderts noch völlig unter bischöficher Herrschaft, eine Stadt, in der erste Ansätze kommunaler Selbstverwaltung kaum wahrnehmbar sind. Es ist in Straßburg wohl diese Gemengelage gewesen, welche die Auftraggeber im Bereich des Kirchenbaus veranlasste, sich der Moderne nur zögerlich zu öffnen und historischen Bautypen nochmals zum Erfolg zu verhelfen. Wahrscheinlich wurde im klerikalen Milieu die »antikische« Skulptur ebenso als Rückgriff auf die Ursprünge des Christentums verstanden. Es ist völliger Unsinn, diese Phänomene im Sinne einer »Revolution« zu interpretieren. Trotz dieses Schönheitsfehlers bildet der geschmackvoll gestaltete Katalog »Strasbourg 1200–1230« einen guten Einstieg in die Problematik der elsässischen Kunstgeschichte im frühen 13. Jahrhundert.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Peter Kurmann, Rezension von/compte rendu de: Jean Wirth, Cécile Dupeux, Sabine Bengel et al., Strasbourg 1200–1230, la révolution gothique. Catalogue de l’exposition, présentée au musée de l’Œuvre Notre-Dame – Arts du Moyen Âge, Strasbourg du 16 octobre 2015 au 14 février 2016, Strasbourg (Musées de Strasbourg) 2015, 320 p., ISBN 978-2-351251-37-9, EUR 39,00. , in: Francia-Recensio 2017/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43438