Christian Zschieschang, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) in Leipzig, widmet sich in seiner Monografie einer zentralen Schriftquelle des 9.Jahrhunderts. Das Hersfelder Zehntverzeichnis ist für Sprachwissenschaftler und Historiker gleichermaßen grundlegend, wenn es um die Erforschung des Gebiets an der mittleren Saale während des Frühmittelalters geht. Es enthält über 200 Toponyme, darunter 18 Befestigungen, und ist damit insbesondere für die schon lange diskutierte Lokalisierung der östlichen Grenze des Frankenreiches entscheidend. Eine Einordnung in den Kontext der weiteren Ortsnamenlandschaft stand bisher aus und wird nun mit dieser wichtigen Publikation vorgelegt.

In der umfangreichen Einleitung (S. 11–59) kommt der Autor zunächst auf das alte Bild von Elbe und Saale als Grenze zwischen slawisch- und deutschsprachigen Bevölkerungsgruppen des Frühmittelalters zu sprechen1. Dieses nimmt er als Ausgangspunkt für seine Regionalstudie, mit der er – mittels linguistischer Methodik – einen Beitrag zu diesem kontroversen Paradigma liefert. Beim Überblick über die bisherige Erforschung des Hersfelder Zehntverzeichnisses von Seiten der Siedlungsgeschichte werden zwei Fragen als wesentlich für die Untersuchung bezeichnet: 1. Welche Unterschiede bestehen zwischen den Ortsnamen des Hersfelder Zehntverzeichnisses und den übrigen Toponymen dieser Region, die erst später überliefert werden? 2. Welche Rückschlüsse lassen sich daraus auf die frühmittelalterliche Geschichte des Raumes an der mittleren Saale ziehen? Der namenkundliche Forschungsstand wird nach Bearbeitungsstufen gegliedert und auf beinahe 40 Seiten detailliert präsentiert. Dabei betont Zschieschang, »dass alle Namen der Region als Ganzes betrachtet werden« (S. 57).

Auf dieser Grundlage werden in Kapitel 2 (S. 60–80) und Kapitel 3 (S. 81– 147) zunächst die slawischen, anschließend die deutschen Siedlungsnamen zusammengestellt und analysiert. Besonders aufschlussreich für die Frage nach der frühmittelalterlichen Grenzsituation an der mittleren Saale sind in geschichtswissenschaftlicher Hinsicht Kapitel 4 (S. 148–153) zu den Burgen und Kapitel 5 (S. 154–180) mit der siedlungshistorischen Auswertung. Zwar ist das den Burgen gewidmete Kapitel vergleichsweise knapp ausgefallen, aber zum einen werden hier doch wesentliche Erkenntnisse gewonnen, zum anderen spielen die Befestigungen auch in Kapitel 5 noch eine Rolle. Gerade die Burgen weckten das Interesse der historischen Forschung und führten wiederholt zur Annahme eines planmäßigen Ausbaus der östlichen Grenze des Frankenreichs. Nach Zschieschang lassen sich eine etwaige »Gründungskampagne« (S. 153) oder »eine einheitliche und systematische herrschaftliche Durchdringung der Region« (ebd.) aber aufgrund der Toponyme keineswegs feststellen.

In Kapitel 5 kommt der Autor – auf Basis des Hersfelder Zehntverzeichnisses – zu folgendem siedlungsgeschichtlichen Fazit (S. 167): Die frühmittelalterliche Erschließung ging in vier Hauptetappen vonstatten. Am Anfang stand die dichte Besiedlung des Raums zwischen Saale und Harz, die durch deutsche Bildungstypen belegt wird. Darauf folgte eine Besiedlung durch slawischsprachige Bevölkerungsgruppen von Osten her, gleichzeitig mit einer Verdichtung im Westen. Schließlich verbreiteten sich deutschsprachige Gruppen Richtung Osten bis zur Saale hin. In diesem Kontext widmet sich Zschieschang der Frage nach der Vollständigkeit des Hersfelder Zehntverzeichnisses. Er stellt fest, dass eine solche aufgrund der Lückenhaftigkeit keineswegs gegeben sei. Seiner Meinung nach lässt sich daraus ableiten, dass das fränkische Königtum an der östlichen Peripherie seines Reiches keinen uneingeschränkten Zugriff auf den Zehnten und somit das Untersuchungsgebiet hatte. Auch von daher wäre der Terminus »Saalegrenze« zu überdenken.

Abschließend konstatiert der Autor, dass die Ortsnamen für die Saaleregion »sowohl eine deutliche ›ursprüngliche‹ Grenzsituation […] wie auch deren spätere Transformation und Nivellierung« (S. 180) zeigen. Man kann Zschieschang nur zustimmen, wenn er festhält, »dass sich Grenzentwicklungen anhand von Siedlungsnamen in einem beträchtlichen Maß nachzeichnen lassen« (ebd.). Insgesamt dürfte dieses lesenswerte Buch die geschichtswissenschaftliche Diskussion um die frühmittelalterliche »Saalegrenze« bzw. die östliche Grenze des Frankenreichs neu beleben. Dabei wird man sich wieder vermehrt die Frage stellen müssen, wie intensiv die östliche Peripherie des Karolingerreichs im 9.Jahrhundert noch herrschaftlich erfasst und durchdrungen wurde. Ein ausführlicher Anhang (S. 181–240), der nicht zuletzt wegen seines umfangreichen Kartenmaterials Erwähnung verdient, rundet den Band ab.

1 Die Begriffe »slawisch« und »deutsch« werden in einem sprachwissenschaftlichen, speziell namenkundlichen Sinne verwendet.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Stephan Ridder, Rezension von/compte rendu de: Christian Zschieschang, Das Hersfelder Zehntverzeichnis und die frühmittelalterliche Grenzsituation an der mittleren Saale. Eine namenkundliche Studie, Köln, Weimar, Wien (Böhlau) 2017, 240 S., 3 s/w u. 24 farb. Abb. (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 52), ISBN 978-3-412-50721-3, EUR 40,00., in: Francia-Recensio 2017/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2017.4.43440