Die Geschichte der Meere rückt in jüngster Zeit verstärkt in den Fokus historischer Forschung. So legte 2011 Michael North eine »Geschichte der Ostsee« mit dem Untertitel »Handel und Kulturen« vor1. Olaf Mörke veröffentlichte 2015 unter der Überschrift »Die Geschwistermeere« eine Geschichte des Nord- und Ostseeraumes2. 2016 folgte, um ein letztes Beispiel anzuführen, ein von Michael Borgolte und Nikolaus Jaspert herausgegebener Tagungsband zum Thema »Maritimes Mittelalter. Meere als Kommunikationsräume«3. Im selben Jahr 2016 steuerte indes auch Brian Ayers, seines Zeichens Archäologe und Forschungsstipendiat sowie außerordentlicher Professor an der University of East Anglia (UEA) in Norwich, mit seinem Buch »The German Ocean. Medieval Europe around the North Sea« im Rahmen der Publikationsreihe »Studies in the Archaeology of Medieval Europe« einen fundierten Beitrag zum derzeitigen Forschungsdiskurs über die Geschichte der Meere bei, der im Folgenden besprochen werden soll. Wie die Profession des Autors und die wissenschaftliche Reihe, in der der betreffende Band erschien, andeuten, geht es dabei nicht um eine in erster Linie historische Annäherung an das maritime Thema, sondern um eine archäologische Sichtung des betreffenden Forschungsstandes. Der erste Satz von Ayers’ Einleitung verdeutlicht zudem, dass in seinem Buch zuvorderst nicht die genuine Geschichte der früher als »Deutsches Meer« (German Ocean) bezeichneten Nordsee berührt wird, sondern die Nordsee-Region und die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen jener Gemeinschaften, die in der mittelalterlichen Epoche diese Region bewohnten (S. 1). Das hat Ayers’ Buch gewissermaßen mit den anderen genannten Veröffentlichungen gemeinsam: Meeresgeschichte bedeutet jeweils eine Spielart der (globalen) Kommunikationsgeschichte. Es geht grundsätzlich und auch im Fall dieser archäologisch ausgerichteten Betrachtung der Nordseeregion, wie die Einleitung weiter offenbart, um Kontakt, Interaktion und Austausch zwischen Menschen aus Ländern und Kommunen, die mehr oder minder nah an den Meeresküsten gelegen waren.
Auf ein Verzeichnis der Karten (S. VIII) und Abbildungen (S. IX–XI), eine Danksagung (S. XIII–XV), den Kartenteil (S. XVIII–XXI) und die bereits erwähnte Einleitung (S. 1–5) folgt eine auf den ersten Blick geradezu schlicht-klassische Gliederung des darstellenden Teils nach Jahrhunderten, beginnend mit dem ersten, grundlegenden Kapitel, das auf die Region um 1100 eingeht (S. 7–32). Doch schon die Überschrift zum zweiten Kapitel, welches das 12. und 13. Jahrhundert gemeinsam in den Mittelpunkt stellt (S. 33–70), zeigt, dass der Verfasser über seine rein chronologische Anordnung hinausgehend auch eine strukturelle Gliederung verfolgt. Denn sie greift zugleich das Stichwort der Konsolidierung auf. Kapitel 3 beschreibt das 14. Jahrhundert parallel als eine Zeit wachsenden Wohlstands bei gleichzeitiger Zunahme der Sachzwänge (S. 71–110). Das 15. Jahrhundert wird im folgenden Kapitel 4 als eine Phase weiterer Differenzierung gewertet (S. 111–146). Ausnahmsweise losgelöst von der Chronologie handelt das fünfte Kapitel sodann vom Einfluss der Kaufleute (S. 147–180), wohingegen das sechste und letzte Kapitel wieder in den üblichen Rahmen zurückkehrt und das 16. Jahrhundert unter dem Stichwort der (Entdeckung der) neuen Welt zusammenfasst (S. 181–198). Dem darstellenden Teil folgen ein Anmerkungsapparat (S. 199–222), ein Verzeichnis der verwendeten Literatur (S. 223–250) sowie ein jeweils ausführlich gehaltenes Sach- und ein Ortsregister (S. 251–258 bzw. S. 259–268).
Die Lektüre des Bandes hinterlässt beim Leser einen durchweg positiven Eindruck: Das Buch ist, wie angeführt, übersichtlich gegliedert, zudem hinreichend anschaulich illustriert und weitgehend gründlich redigiert – sieht man einmal von vereinzelten (Tipp-?)Fehlern ab wie »Rundholt« statt richtig »Rungholt« (auf S. 71 sowie im Register auf S. 266). Die Belegdichte im darstellenden Teil ist erfreulich hoch, und die Belege sind ausweislich der Bibliografie auf einem höchst aktuellen Stand. Im Übrigen findet sich unter den zahlreichen zitierten Titeln nicht nur archäologische Literatur wieder, sondern auch eine Fülle an Beiträgen, für deren Autorenschaft die Historikerzunft verantwortlich zeichnet. Damit ist im Prinzip schon gesagt, dass ein großer Vorzug des in seiner Gesamtheit verständlich geschriebenen Bandes darin besteht, dass er, wiewohl aus einem betontermaßen archäologischen Blickwinkel heraus geschrieben, vielerlei inter- oder transdisziplinäre Brücken zu anderen Forschungszweigen, insbesondere aber zur Geschichtswissenschaft schlägt. Das ist gewiss der große Vorzug des Buches: Ayers’ Text mit seinem fachspezifischen Blickwinkel auf urbane Zentren, Gebäude und Verkehrswege kann so historische Herangehensweisen im Bereich der Wirtschafts-, Sozial-, Kultur- oder eben Kommunikationsgeschichte in synergetischer Weise ergänzen. Dies vermag der Band umso mehr zu leisten, als Ayers einen sehr weiten Regionsbegriff verwendet, was sich freilich von der Sache her sehr gut begründen lässt. Seine Fokussierung auf Kommunikation, Vernetzung und Austausch erklärt, warum Göttingen und Siegburg oder – besonders markant – Nowgorod in einem Buch zur Geschichte der Nordsee Erwähnung finden. Orte wie die eben genannten lassen sich nämlich als nicht zu vernachlässigendes »Hinterland« der Nordsee-Region begreifen.
Der Autor erweist sich, wie seine Literaturauswahl bereits nahelegt, auf jeder Buchseite in souveräner Weise und stets erfrischend unaufgeregt auf dem neuesten Stand der Forschung. Das veranschaulicht etwa sein knapp gehaltener Hinweis auf die jüngsten Ausgrabungen im Gründungsviertel der Stadt Lübeck, die einen Treppenabgang aus Backstein, der zu einem aus Holz gebauten Keller führte, zu Tage förderten (S. 59). Diese frühe wirklich »profane« Nutzung des neuen Baustoffs Backstein widerspricht älteren Theorien, er sei zu jener Zeit vor allem herrschaftlicher oder kirchlicher Architektur vorbehalten gewesen, und lässt sogleich nach den Verbindungslinien fragen. Wiederum sind Kommunikation und Austausch die dahinter stehenden, passenden Stichworte.
In weiten Teilen kann Ayers’ Buch als eine Geschichte der Hanse (im Nordseeraum) gelesen werden, was in der Natur der Sache liegt. Doch bringt der Autor durch seine andere, auf die Nordseeregion ausgerichtete, archäologische Perspektive immer wieder auch neue Blickwinkel ein, die in der Summe ein stimmiges Gesamtbild erbringen, das über hansische Kontexte hinausgeht. In diesem Sinne würde man sich gern die Fortschreibung seines Ansatzes für die Zeit vor 1100 bzw. ab dem 17. Jahrhundert wünschen. Für beide Phasen wüsste die Archäologie gewiss ebenfalls Wichtiges zur Erkenntnis von Kontakt, Vernetzung und Austausch zwischen den Menschen in der Nordsee-Region beizusteuern.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Oliver Auge, Rezension von/compte rendu de: Brian Ayers, The German Ocean. Medieval Europe Around the North Sea, Sheffield (Equinox Publishing) 2016, XXII–268 p., 4 maps, 93 col. and b/w fig. (Studies in the Archaeology of Medieval Europe), ISBN 978-1-904768-49-4, GBP 85,00., in: Francia-Recensio 2018/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45538