Den vielfältigen Formen der Erinnerungskultur hat das Mittelalter mit Verbrüderungsbüchern, Necrologien und Gebetsgedenken neue Elemente hinzugefügt, denen die Menschen eine spezielle religiöse, ihr eigenes Seelenheil betreffende Bedeutung beimaßen. Dazu gehören auch die bisher wenig beachteten Totenrotuli, die dieser Band mit einem außergewöhnlichen Beispiel vorstellt. Totenrotuli gaben die Nachricht vom Tode eines oder mehrerer Verstorbener (encyclica) teils mit einer Eloge an befreundete und verbrüderte Institutionen weiter, die sich dann aktuell in den Rotulus eintrugen (tituli) – als Beweis für die Teilnahme der Gemeinschaft am Gebet für den Verstorbenen. Ein Rotulus gelangte so über viele Stationen in zahlreiche Kirchen und Klöster quer durch Europa.

Nach dem monumentalen Editionswerk von Jean Dufour, »Recueil des rouleaux des morts«1 und »Les rouleaux des morts, Monumenta Palaeographica Medii Aevi, Series Gallica, 5« (2009), dessen Texte bisher noch auf ausführlichere Interpretationen warten, wird hier in einer kommentierten und übersetzten Ausgabe ein schon bekanntes, aber besonders herausragendes Beispiel dieser Quellengattung präsentiert und untersucht. Der Totenrotulus Brunos, des Gründers des Kartäuserordens (Bruno von Köln, † 6. Oktober 1101), ist nämlich nicht nur ein Aufruf zum Gebet für den Verstorbenen, sondern zugleich Verherrlichung seiner Taten, d. h., hier wird das Gebetsgedenken begleitet, teils sogar überlagert von nahezu hymnischem Lobgesang auf den Verstorbenen, sodass wir hier eher ein Preisgedicht nach dem Muster einer klassischen Laudatio funebris vor uns sehen, einen Vorläufer der späteren Leichenpredigt.

In einer knappen Einleitung stellt Gabriela Signori (»Introduction: The Rotulus«, S. 3–10) die Rotuli als Gattung vor und beschreibt die besondere Überlieferungssituation des Bruno-Rotulus, der nur noch in einer gedruckten Fassung des 16. Jahrhunderts erhalten ist, die wohl im Umfeld der Heiligsprechung des Ordensgründers publiziert wurde2. Dieser Druck wird in seiner Entstehungsgeschichte und Zusammensetzung beschrieben von David J. Collins (»Background and Production of the Early Modern Print«, S. 11–23), der ausführlich auf die Autoren der dem eigentlichen Rotulus beigefügten Gedichte eingeht: Heinrich »Lupulus« Wölflin (1470–1534), »Pro funebribus de transitu diui Brunonis« (Edition S. 128–131), Sebastian Brant (1457–1521), »Exhortatio ad lectorem de vita solitaria« (Edition S. 297–298) und Heinrich Glarean (1488–1563), »De origine cartvsianae religionis« (Edition S. 298–305).

Eine philologische Untersuchung des Textes bietet der Beitrag von Hartmut Beyer (»Tituli – Versus – Epitaphs: The Form und Topology of Mortuary Roll Poems«, S. 25–45), der zu dem Schluss kommt, dass die einzelnen Einträge (Tituli) kaum stilistische Feinheiten bieten. Ein Vergleich mit den Texten anderer Rotuli und mit Epitaphien, deren Gebrauch und Form von der Römerzeit über Isidor von Sevilla bis zu karolingischen Autoren skizziert wird, zeigt für die Tituli des Bruno-Rotulus wenig Qualität und Einfallsreichtum. Ein Umstand, der den auf wenige inhaltliche Aspekte (Trauer, Trost, Gebetsversprechen, Lobpreis) ausgerichteten topoihaften Formulierungen geschuldet ist. Leider werden die zahlreichen von Beyer ermittelten Formelparallelen und Zitate in der Edition nicht angemerkt.

Die historische Bedeutung Brunos wird in zwei Beiträgen dargestellt, die sich vor allem der Rolle des Kartäusers als scholastischen Lehrers widmen: Constant J. Mews (»Bruno of Reims and the Evolution of Scholastic Culture in Northern France, 1050–1100«, S. 49–81) beschreibt Brunos Wirken in der (scholastischen) Reimser Schule und hebt besonders seine intellektuelle Auseinandersetzung mit den Glaubenssätzen Berengars von Tours hervor, die auch den Psalmenkommentar Brunos beeinflusst habe. Sita Steckel (»Doctor doctorum. Changing Concepts of ›Teaching‹ in the Mortuary Roll of Bruno the Carthusian [d. 1101]«, S. 83–116) stellt Brunos Rolle als Lehrer in den Vordergrund und sucht in den Tituli Beispiele der Begeisterung und Verehrung, die seine Schüler emphatisch zum Ausdruck bringen; sie sieht darin Ansätze zu neuen Unterrichtskonzepten, mit denen der Gegensatz zwischen monastischer und scholastischer Lehre überwunden werden konnte.

Der Text des Rotulus, der schon mehrfach in älteren Publikationen und zuletzt von Dufour (Recueil, 1, Nr. 105, S. 278–349) abgedruckt wurde, beginnt nach einigen von Dufour nicht wiedergegebenen Gedichten und Epitaphien mit der Todesnachricht, verfasst in der Kartause La Torre (Kalabrien), wo Bruno am 6. Oktober 1101 starb. Es folgen 178 gezählte Tituli (S. 136–286). Da die Textgrundlage der Druck des 16. Jahrhunderts ist, enthalten sich die neuen Herausgeber jeglicher textkritischer Kommentare, wie sie in den älteren Ausgaben (z. B. Acta sanctorum, Migne PL 152; Zusammenstellung nur bei Dufour, Recueil, 1, S. 278f.) zu finden sind. Ebenso fehlen der größte Teil der von Dufour angebotenen Verweise auf Bibelzitate und die präzisen Identifizierungen und Lokalisierungen der Kirchen und Klöster. Neu hinzugefügt sind lediglich wenige Hinweise auf Bibelstellen. Das Verständnis der Texte wird zwar erleichtert durch eine nach jedem Titulus folgende Übersetzung in deutscher und englischer Sprache, doch sollte für wissenschaftliches Arbeiten in jedem Fall auch die Edition von Dufour parallel benutzt werden.

Die Übersetzungen sind nicht überall gelungen, vor allem, wenn es um die Begriffe des Gebetsgedenkens geht. So ist obseqium in den Tituli 15 und 36 im Deutschen und im Englischen richtig als »Dienst der Fürbitte« bzw. »Obsequien«/»memorial services« übersetzt, während die Tituli 18 und 58 das als »Gehorsam« übersetzen, obwohl auch hier die englische Fassung richtig von »funeral service« bzw. »memorial services and prayers« spricht. Die Begriffe septenarius und tricenarius werden im Deutschen teils richtig, teils falsch (z. B. in den Tituli 8, 10, 45, 89, 169) übersetzt, im Englischen durchgehend richtig. Verwirrend ist auch die Übersetzung der lateinischen Ausdrücke für das Necrolog (oder Gedenkbuch). So wird in matricula conscribere in Titulus 1 sehr passend mit »in das Gedenkbuch einzutragen« übersetzt, während in Titulus 5 in nostra matricula [...] inseremus nur pauschal zu »in unsere Liste eintragen« wird. Das Englische wählt in diesen Fällen passender immer die Formulierung »list of our divine services«. Die Liste solcher Unstimmigkeiten, die bei Lesern ohne Lateinkenntnisse zu Missverständnissen führen kann, ließe sich fortsetzen. Solche Divergenzen können auch mit den einschränkenden Bemerkungen der Herausgeber zu den Übersetzungen (S. 121) nicht erklärt werden.

Wie bereits erwähnt, werden auch die in den Begleituntersuchungen erörterten stilistischen Merkmale und Referenzen auf die Bibel oder die klassische Literatur im Textabdruck nicht dargestellt. Ebenso bleiben die vielen außergewöhnlichen Vergleiche Brunos mit Sokrates, Platon, Aristoteles, Vergil oder den Propheten hier unkommentiert (Beitrag Steckel, S. 104).

Der Weg des Rotulus durch Europa (Nord- und Süditalien, England, Normandie, Aquitanien, Île-de-France, Burgund) wird auf zwei von Hartmut Beyer verantworteten Karten dargestellt (S. VIII und IX), wie sie ähnlich auch schon Dufour präsentiert (Recueil, 1, Karten Nr. 5a und 5b, S. 900f.). Während Dufour mit Linien ein fortlaufendes Itinerar zu rekonstruieren versuchte, werden in den Karten der neuen Ausgabe die Orte der geistlichen Gemeinschaften mit den Nummern der Tituli gekennzeichnet.

Ein ausführliches Literaturverzeichnis mit Nachweis der in den Bibliotheken erhaltenen Exemplare des Erstdruckes von 1515 beschließt den Band. Ein Register fehlt leider. Das Buch eröffnet den Zugang zur schwierigen Quellengattung der Rotuli, kann aber für die kritische Forschung nicht ohne Einschränkung empfohlen werden; als alleinige Grundlage für die Interpretation des Bruno-Rotulus ist es nicht geeignet.

1 Jean Dufour (éd.), Recueil des rouleaux des morts (VIIIe siècle–vers 1536), vol. 1, 2, 3, 4, 5, Paris 2005-2013 (Recueil des historiens de la France. Obituaires. Série in-4°, 8).
2 François Dupuy, Prologus in vitam beati Brunonis confessoris institutoris ordinis Carthusien[sis], Basel 1515; digitalisiert von der Bayerischen Staatsbibliothek: http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00019629/image_50(23/02/2018).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Franz Neiske, Rezension von/compte rendu de: Hartmut Beyer, Gabriela Signori, Sita Steckel (ed.), Bruno the Carthusian and his Mortuary Roll. Studies, Text, and Translation, Turnhout (Brepols) 2014, X–296 p., 3 b/w, 2 col. ill. (Europa Sacra, 16), ISBN 978-2-503-55009-1, EUR 80,00., in: Francia-Recensio 2018/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45540