Die Umbruchszeit des späten Mittelalters, wie sie sich in der Krise der Kirche und des Reichs, im Aufbegehren des Gemeinen Mannes oder in der Formierung reformatorischer Anfänge widerspiegelt, beschäftigt die Forschung seit geraumer Zeit. Mit den verschiedenen Krisenerscheinungen, einzelnen Missständen bis hin zum gänzlichen Verfall, hatten sich indes schon die Zeitgenossen auseinandergesetzt. In »Reformschriften« – ein Begriff, den erst im späten 19. Jahrhundert Max Lenz prägen sollte – übten sie Kritik daran und suchten nach Lösungsmöglichkeiten. Dem Autor der vorliegenden Studie geht es nun weniger darum, eine weitere vergleichende Detailanalyse dieser Schriften vorzulegen, sondern er befragt diese auf ihren Nutzwert für das Konzept von Expertenkulturen. Im strengen Sinne ist seine Studie daher weniger eine historische, sondern nach eigener Aussage eine »wissenssoziologisch motivierte Arbeit« (S. 145). Hervorgegangen ist sie aus dem Göttinger Graduiertenkolleg »Expertenkulturen des 12.–16. Jahrhunderts«.
Dümling gliedert seine Arbeit in vier Abschnitte, denen ein knappes Fazit folgt. Bereits in seiner Einleitung (S. 9–46) geht er auf die drei konstituierenden Problemkomplexe seiner Untersuchung ein, die er an drei Leitfragen ausrichtet (S. 15, 28, 39): »Was ist eine Reformschrift? Was ist eine Imaginationsgeschichte? Was ist ein Experte?« Dabei stellt er sich explizit die Frage, inwiefern die von ihm herangezogenen Texte aufgrund ihrer offensichtlichen Disparität und Offenheit überhaupt miteinander verglichen werden können (»Die Texte haben recht wenig gemeinsam, und doch gibt es irgendetwas, das sie irgendwie zusammenbringt«, S. 124). Dümling legitimiert sein Vorhaben mit Hilfe des von ihm herangezogenen Expertenbegriffs, wobei er sich am Konzept der Expertenkulturen orientiert, wie es zuletzt Rexroth, Röckelein u. a. für die Mediävistik fruchtbar gemacht haben1. Ob es dafür aber notwendig gewesen ist, den eigenen theoretischen Zugriff in großer Ausführlichkeit und einer dem Leser den Zugang eher verstellenden wissenssoziologischen Fachsprache sowie zahllosen metasprachlichen Erwägungen auszubreiten, sei dahingestellt.
Anschließend erfolgen ein paar Reflexionen zum Begriff der »Reformen im Mittelalter – zwei Perspektiven« (S. 47–52), d. h. die Rückkehr zu einer vorbildhaften Vergangenheit oder eine heilsgeschichtlich orientierte Reform. Dümling distanziert sich damit deutlich vom instrumentalisierten Reformbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts und plädiert im Anschluss an Märtl2 für eine möglichst weite Öffnung des Reformbegriffs, was ihm seine eigene Textauswahl erleichtert.
Im nachfolgenden dritten Abschnitt stellt er neun einzelne Reformschriften vor (»Reformschriften sind Texte – erste Quellenlektüre«, S. 53–123) und ordnet diese in ihren jeweiligen Entstehungskontext ein. Als Auswahlkriterium nennt Dümling »die größte gemeinsame Zustimmung seitens der Forschung« (vgl. S. 15f.), was aber nicht restlos zu überzeugen vermag. Die ersten drei (Niem; »Avisamentum« eines Anonymus; Vener) sind Texte, die ihre Entstehung dem Konstanzer Konzil verdanken, die folgenden vier (Schele; Kues; »Reformatio Sigismundi«; Toke) stehen in engem Bezug zum Basiliense, während die letzten beiden (Hermansgrün, »Somnium«; das »buchli« des sog. Oberrheinischer Revolutionärs) bestenfalls lockere Anknüpfungspunkte zum Wormser Reichstag von 1495 bieten. Damit öffnen sich zwei reichlich disparate Diskursräume, einerseits die Konzilien, andererseits ein Reichstag, was für Struktur und Absicht der Reformtexte zwangsläufig Konsequenzen gehabt haben dürfte. Hinzu kommt, dass Hermansgrüns »Somnium« und das »buchli« den Wormser Reichstag nur als Aufhänger nutzen und erst wesentlich später vollendet wurden. Zweifel an der Vergleichbarkeit dieser beiden Texte mit den anderen Schriften dürften damit nicht verstummen. Um die einzelnen Werke historisch zu verorten, stützt sich Dümling weitgehend auf die einschlägige Forschungsliteratur. Bereits an dieser Stelle verweist er auf Bezüge zur Expertenkultur, auf die er dann im vierten Abschnitt intensiver eingeht.
Charakterisiert werden die vorgestellten Schriften – trotz aller immanenten Unterschiede – als Expertisen für Experten, durch die Einfluss genommen werden soll. Denkt man jedoch an die eher begrenzte Öffentlichkeit auf Konzil und Reichstag und die geringe Verbreitung der Schriften – Veners »Advisamentum« ist in nur zwei Handschriften überliefert ebenso wie Hermansgrüns »Somnium«; das »buchli« scheint überhaupt keine unmittelbare Rezeption erfahren zu haben – , ist dieser Annahme Dümlings angesichts seiner Auswahl mit Skepsis zu begegnen.
Der auch seitenmäßig umfangreichste vierte Abschnitt »Reformschriften und Expertenkulturen« (S. 124–213) bildet den eigentlichen Kern der Studie. Dümling untersucht hier, wie sich die Verfasser der Reformschriften selbst als »Experten« verstehen, wie sie die Gesellschaft beobachten, worin ihre Expertise besteht und wie sie sich in den Reformdiskurs einbringen. Das Ergebnis zeigt jedoch, dass das verwendete Vokabular erhebliche Probleme aufwirft: So dürfte zumindest mit Blick auf die historisch jüngsten Schriften (»Somnium«, »buchli«) eine Selbstbeschreibung der Autoren als Experten kaum zutreffen. Auch in einer Begriffserweiterung zum Experten-Intellektuellen dürften sich diese beiden Autoren kaum wiedererkennen können. Allein das Imaginationskonzept trägt etwas weiter und verschafft neue Einsichten.
Auf den Titel »Träume der Einfachheit« wird nur am Rande eingegangen – anders als der in der Sache zutreffende Untertitel. Bestenfalls die beiden späten Reformschriften lassen sich als Träume deuten. Inwiefern zumindest diese eine Einfachheitsutopie ausdrücken, ist dem Rezensenten auch nur bedingt aufgegangen.
Daher stellt sich die grundsätzliche Frage, welchen Mehrwert Dümlings wissenssoziologischer Zugriff auf die Reformschriften bringt. Das scheint er selbst erkannt zu haben, wenn er etwa schreibt: »Trotz dieser Schwierigkeiten, die Texte als Expertisen und ihre Sprecher als Experten zu bezeichnen, hat sich das Experten-Konzept als nützliches analytisches Werkzeug erwiesen, um Fragen an das Material zu präzisieren« (S. 171). Fragt sich nur, wofür. Am ehesten überzeugt noch sein Blick auf die Imagination der Schriften: Dümling erkennt in ihnen einen moralischen Impetus, der sich an Religion und Heilsgewissheit orientiert und dadurch zum Gradmesser für die Reformbedürftigkeit von Institutionen wird. Insgesamt ist es dem Autor indes nur unzureichend gelungen, mit dem Konzept der Expertenkultur die Disparität der Texte aufzuheben und damit eine neue Vergleichsgrundlage herzustellen.
Dass die Lektüre überdies kaum zu einem Lesevergnügen werden wird, dürfte den Leserinnen und Lesern schnell deutlich werden. Dafür ein Beispiel: »Eine der Forschungsabsichten war es, zu rekonstruieren, welche Imaginationen von Gesellschaft die Reformschriften (re-)produzieren, wie die Texte also kollektives Sein als funktional geordnete Ganzheit denken« (S. 214). Geht es noch komplizierter? Eine hochartifiziell-szientistische Ausdrucksweise ebenso wie umständlich verschachtelte Satzkonstruktionen verlangen den Leserinnen und Lesern ein hohes Maß an Durchhaltevermögen ab. Erschwerend erweist sich der vom Autor als »Idealfall« bezeichnete »Dialog zwischen den Kapiteln 3 und 4« (S. 53). Die vielen Vor- und Rückverweise auf den jeweils anderen Abschnitt (ebenso innerhalb einzelner Abschnitte, meist ohne genauen Verweis in den Fußnoten) tragen eher nicht dazu bei, den Blick des Lesers auf das Zentrum der Untersuchung zu lenken.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Ansgar Frenken, Rezension von/compte rendu de: Sebastian Dümling, Träume der Einfachheit. Gesellschaftsbeobachtungen in den Reformschriften des 15. Jahrhunderts, Husum (Matthiesen) 2017, 250 S. (Historische Studien, 511), ISBN 978-3-7868-15112, EUR 39,00., in: Francia-Recensio 2018/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45545