»Jeder Wissenserwerb setzt sich aus zwei Dingen zusammen: Zuerst muss das zu Wissende verstanden und dessen begriffliche Definition in der Seele abgelegt werden; dann kann über das, was verstanden und in der Seele abgelegt wurde, ein wahres Urteil getroffen werden.« Dieser Stufenprozess von speichernder Enkodierung und elaborierendem Abrufen gespeicherten Wissens, wie ihn hier der islamische Gelehrte al-Fārābī im 10. Jahrhundert profilierte, hat noch heutzutage in der Psychologie sowie der Gedächtnisforschung nichts von seiner Grundsätzlichkeit verloren. Geboren etwa 870 n. Chr. vielleicht im heutigen Kasachstan, vielleicht aber auch in Afghanistan, übersiedelte al-Fārābī nach der Jahrhundertwende mit seinem Lehrer, einem nestorianischen Christen, nach Bagdad. Reisen führten ihn nach Damaskus oder Ägypten, ehe er dann in das Gefolge des späteren Hamanidenfürsten Saif ad-Daula trat und nach Aleppo kam, wo die meisten seiner Werke entstanden. Vermutlich von Straßenräubern auf dem Weg von Damaskus nach Asqalan erschlagen, starb al-Fārābī 950 n. Chr. So wenig wir Genaues und Sicheres von seinem Leben wissen, so groß ist die Anzahl der von ihm hinterlassenen oder ihm zugeschriebenen Schriften aus ganz unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen: Musik, Theologie, Philosophie, Kosmologie, Medizin, Biologie, Geografie usw., wenn weitgehend moderne Kategorisierungssysteme angewandt werden.

Folgend seinem eigenen, oben zitierten Kategorisierungsdictum beschrieb al-Fārābī die seinerzeit bekannten Wissenschaften, charakterisierte sie nach ihren Funktionen und teilte sie in fünf jeweils untergliederte Felder ein: Grammatik, Logik, Mathematik, Naturwissenschaft und Metaphysik sowie Politik, (islamische) Rechtslehre und Systematische Theologie (des Islam). Dadurch erhielten die Wissenschaften ihren Eigenwert im Spannungsfeld zwischen Glauben und Wissen. Es erfolgte ein Einbau des Wissens in die arabisch-islamische Kultur, eine Integration griechischen Denkens. Für al-Fārābī gab es nur eine Wahrheit, die sich ausdrückte in der Philosophie wie den Wissenschaften, dies aber durch eine jeweils verschiedene Sprachlichkeit. So ist für den Denker der ideale Herrscher nach islamischer Umformung Platons Philosoph und Prophet zugleich. Von jener Schrift al-Fārābīs, in der er die Wissenschaften in stark deskriptiver Weise katalogisierte, gibt es zwei miteinander zusammenhängende Übersetzungen des 12. Jahrhunderts, beide aus der »Übersetzerschule von Toledo«, die eine jeweils nicht unbedeutende Strahlkraft entfalteten und somit im Bereich des Kultur- und Wissenstransfers für die Forschung seit geraumer Zeit von hohem Interesse sind: Dominicus Gundissalinus, der Exzerpte aus al-Fārābīs Schrift vornahm, und Gerhard von Cremona. Nach der Edition und deutschen Übersetzung Franz Schupps aus dem Jahre 20051 hat nun Alain Galonnier, der am Centre Jean Pépin tätig und durch einschlägige Arbeiten zum Wissenstransfer des Mittelalters und zur Hybridität der Kulturen ausgewiesen ist, abermals den Text Gerhards mit einer (französischen) Übersetzung herausgebracht. Der wesentliche Fortschritt im Vergleich zur Ausgabe Schupps ist die Korrelation mit einer weiteren Handschrift, dem spätmittelalterlichen »Admontensis«. So fußt die Edition nun neben der Pariser Leithandschrift und den Codices aus Graz und Brügge auf insgesamt vier Textzeugen. Inwiefern es sinnvoll war, auch die Zeichensetzung des Parisinus, /que/ statt /quae/ etc., /u/ statt /v/ im Anlaut o. a. nachzuzeichnen, darüber lässt sich streiten. Die toledanische Übersetzungstechnik (verbum verbo), welche dazu führte, dass syntaktische Eigenheiten des Arabischen ins Lateinische überführt wurden, sucht auch die französische Übertragung in Ansätzen nachzuzeichnen, ohne dabei auf Lesbarkeit zu verzichten. Ob sich Gerhard, wie bei anderen Texten nachweisbar, auch bei »De scientiis« eines arabischen Gehilfen bediente, kann nicht gesagt werden. Dass Gerhard nicht selten dasselbe arabische Wort mit mehreren lateinischen Äquivalenten umschrieb, sollte gewiss eher seiner philologischen Professionalität denn seinem Unwissen zugeschrieben werden.

Da al-Fārābī in einer berühmten Stelle von »De scientiis« eine falsche Etymologie von griechisch σοφιστής/lateinisch sophista (vgl. S. 206) liefert, ging die Forschung von eher dürftigen Griechischkenntnissen des arabischen Denkers aus, der seine Informationen wohl mehrheitlich aus arabischen Übersetzungen griechischer Texte gewonnen habe. So sind beim Wissenstransfer insgesamt mehrere Filter anzunehmen, die Alain Galonnier in einer breiten vorgeschalteten Studie auch nachzeichnet. Der Schwerpunkt des Interesses gilt dabei der Rezeptionsgeschichte von Gerhards Übersetzung in der lateinischsprachigen Welt (S. 77–146), die der Autor vornehmlich bis ins 13. Jahrhundert gründlich verfolgt. Roger Bacon, Bonaventura, Vinzenz von Beauvais spielen hierbei ebenso eine gewichtige Rolle wie Richard von St. Viktor, Michael Scotus oder Robert Kilwardby. Sinnvollerweise zieht Galonnier hier die gekürzte und ungleich wirkmächtigere Fassung des Gundissalinus mit in seine Betrachtungen ein. Ob das Verhältnis der beiden Toledaner Übersetzer notgedrungen von Rivalität beeinflusst war, sei dahingestellt.

Insgesamt liegt mit dieser Ausgabe die maßgebliche Edition nebst gründlichem Kommentar von Gerhards lateinischer Übertragung vor. Bezüglich der Übersetzung wird man künftig und parallel gewiss auch die Ausgabe Schupps noch zu Rate ziehen, ebenso was die dort geäußerten Überlegungen zur »Toledaner Übersetzungsschule« betrifft. Die bedeutende Begleitstudie der vorliegenden Ausgabe, welche auch die nicht gerade zahlreichen biografischen Informationen zu al-Fārābī, Gundissalinus und Gerhard von Cremona zusammenträgt, wird durch ein zuverlässiges Register erschlossen. Ein Katalog der beigezogenen Handschriften von Admont bis Teheran und Wien beendet das Werk. Erstrebenswert für das Phänomen des Wissenstransfers wäre langfristig eine dreisprachige Edition, ist doch al-Fārābīs Text auch in einer hebräischen Übersetzung überliefert. Doch ist eine solche Synopse dreier zentraler Wissenschaftssprachen des Mittelalters nur in transdisziplinärer Anstrengung zu lösen, verspräche aber einen großen Forschungsgewinn zu kulturellen Transformationsprozessen, die maßgeblich von einem arabischen Denker ausgelöst wurden, der in der islamischen Welt als »zweiter Aristoteles« galt.

1 Al Fārābī, Über die Wissenschaften/De scientiis. Nach der lateinischen Übersetzung Gerhards von Cremona, hg. und übers. von Franz Schupp, Hamburg 2005 (Philosophische Bibliothek, 568).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Christof Paulus, Rezension von/compte rendu de: Alain Galonnier (éd.), Le De scientiis Alfarabii de Gérard de Crémone. Contribution aux problèmes de l’acculturation au XIIe siècle (édition et traduction du texte). Préface de Jean Jolivet. Postface de Max Lejbowicz, Turnhout (Brepols) 2015, 374 p. (Nutrix. Studies in Late Antique Medieval and Renaissance Thought/Studi su pensiero tardoantico medievale e umanistico, 9), ISBN 978-2-503-52860-1, EUR 90,00., in: Francia-Recensio 2018/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45549