Ab der Mitte der 1440er Jahre entstanden am Hof Herzog Philipps des Guten von Burgund viele historiografische Werke. Einige förderte der Fürst gezielt durch sein Mäzenatentum; dies betraf vor allem die Chronik seines Hofhistoriografen, des berühmten Georges Chastellain. Doch auch aus eigenem Antrieb verfassten einige Personen, die zum Hof gehörten, Texte über die Ereignisse der Zeit. Die vorliegende Arbeit untersucht eines dieser Werke, das nicht nur durch das Berichtete, sondern auch durch den Verfasser interessant ist: den Wappenkönig Goldenes Vlies, Jean Lefèvre de Saint-Rémy. So geht es Grosjean um eine im weitesten Sinne quellenkundliche Analyse sowie eine Einordnung dieses Werks in die Geschichtsschreibung am burgundischen Hof, darüber hinaus aber insbesondere darum, anhand dieses Beispiels Allgemeineres über Herolde als Verfasser historiografischer Werke zu erfahren.
Dieses letztgenannte Anliegen wird in der Einführung (»Introduction«) recht breit vorgestellt. Dabei gerät ein wenig aus dem Blick, dass auch das Werk an sich durchaus Interesse beanspruchen kann. Freilich bleibt daran im Rest des Buchs kein Zweifel.
Der erste Teil beschäftigt sich verständlicherweise zunächst mit der materiellen Grundlage heutiger Kenntnisse und Erkenntnisse über Lefèvres Werk: den vier erhaltenen Handschriften. Gründlich und umsichtig werden zunächst (Kap. I) die Eigenheiten der vier Exemplare dargestellt und scharfsichtig die Konsequenzen für die Interpretation des Textes erläutert. Zum einen bieten die vier Handschriften zwar einen relativ einheitlichen Text, doch entstanden sie frühestens 1509, womöglich erst um 1560. Die Unterteilung des Werks in Kapitel und deren Überschriften stammen eindeutig nicht vom Autor, sondern wurden im Atelier eines Kopisten eingefügt. Zum anderen kann Grosjean plausibel machen, dass Lefèvre offensichtlich seinen Text anhand einer Materialsammlung verfasste, die er selbst für den burgundischen Hofgeschichtsschreiber Georges Chastellain erstellt hatte, und dass er diese Ausarbeitung am Ende seines Lebens vornahm, in Eile und ohne gründliche Schlussredaktion.
Der folgende Abschnitt (Kap. II) widmet sich dem Leben Lefèvres von der Teilnahme an der Schlacht von Azincourt 1415, wo er wohl als Persevant Heinrichs V. von England fungierte, über die Ernennung zum Wappenkönig Goldenes Vlies und damit zum obersten Herold der Länder Herzog Philipps des Guten von Burgund bis zur Aufgabe des Amts am 5. Juni 1468, wenige Tage vor Lefèvres Tod. Die verschiedenen Aufgaben des Wappenkönigs werden erläutert, seine diplomatischen Missionen vorgestellt. Auch der Familie und der Nachkommenschaft gilt ein Abschnitt, ebenso einigen Bildern, in denen andere Forscher Porträts Lefèvres zu erkennen meinten; doch zeigt der Verfasser, dass diese Vermutungen sicherlich nicht zutreffen. Hier liegt die Biografie eines Herolds vor, wie sie so umfassend wohl nur in wenigen Fällen möglich ist.
Anschließend untersucht Grosjean das Vorhaben des Autors, insbesondere anhand des Prologs (Kap. III). Als Vorbild für sein Werk wählte Lefèvre nicht einen Text des burgundischen Hofs, sondern vielmehr die »Chronik« des Herolds Berry, der in Diensten König Karls VII. von Frankreich stand. In beiden Texten steht der Bericht über Selbsterlebtes im Mittelpunkt. Ganz plausibel weist der Verfasser das Werk Lefèvres nicht dem Genre der Chroniken zu, wie es die relevante Edition von Morand tut, sondern jenem der »Mémoires« im Sinne des 15. Jahrhunderts, d. h. im Sinne eines Bericht über Erlebtes, nicht im modernen Sinn als reflektierte Schilderung des eigenen Lebens.
Im zweiten Teil geht es zunächst um die Quellen von Lefèvres Text. Seit Langem ist bekannt, dass dieser Autor sich in weiten Passagen eng an die Chronik des Enguerrand de Monstrelet anlehnt. Grosjean zeigt hier, dass der Wappenkönig stets bewusst mit seiner Vorlage umging, manchmal verkürzte, manchmal präzisierte (Kap. IV). Aber Lefèvre benutzte auch andere Quellen (Kap. V). Insbesondere berief er sich auf das eigene Erleben, wobei er seine Beteiligung oft stolz betont. Erinnerungen an Sinneseindrücke und Gefühle waren besonders intensiv und schlugen sich dementsprechend im Text nieder. Daneben nutzte Lefèvre jedoch auch Protokolle und Notizen und er zog selbst Erkundigungen ein. Die Nachwirkung des Werks am burgundischen Hof blieb allerdings bescheiden (Kap. VI).
Der dritte Teil beschäftigt sich mit dem Herold als Geschichtsschreiber. Selbstredend galt besondere Aufmerksamkeit der Schilderung ritterlicher Taten und dem Orden vom Goldenen Vlies (Kap. VII). Ein sehr häufiges Thema ist auch der Krieg, den der Wappenkönig aufgrund eigenen Erlebens kenntnisreich schildern kann (Kap. VIII). Dabei wird Karl VII. von Frankreich negativ dargestellt, Heinrich V. von England aber positiv, Philipp der Gute geradezu als idealer Fürst (Kap. IX).
Ein prägnanter Schluss rundet das Buch ab. Hier geht Grosjean insbesondere auf die Rolle von Herolden als Geschichtsschreibern ein. Zwischen dem Ende des 14. und dem zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts traten mehrere Herolde als Geschichtsschreiber hervor. Allerdings handelte es sich um solche Herolde, die am Ende ihres Lebens standen, körperlich geschwächt waren und die Abfassung des Werks als Mittel gegen die erzwungene Untätigkeit nutzten; Historiografen im Sinne gelehrter Geschichtsschreiber waren sie nicht. Die Übernahme der Funktion als Geschichtsschreiber passt zum Aufstieg der Herolde in fürstlichen Diensten; dann aber verloren sie wieder an Bedeutung, traten als Geschichtsschreiber nicht mehr auf und wurden zu bloßen Spezialisten für Wappen.
Im Anhang finden sich das Itinerar des Wappenkönigs zwischen 1415 und 1468 (S. 299–322) sowie Unterlagen über eine Geldzahlung (S. 324). Vorbildliche Beschreibungen der vier Handschriften von Lefèvres Werk finden sich im Text (S. 39–54).
Viel erfährt man in diesem Buch also über das Leben Jean Lefèvres und sein Werk – und zwar dank der detaillierten und umsichtigen Analysen, die ähnlichen Arbeiten als Leitfaden dienen können. Doch reicht der Wert dieses Buchs darüber hinaus, denn immer wieder hat der Verfasser weitere Zusammenhänge im Blick, und so ergeben sich weiterführende Einsichten über die Rolle der Herolde im 15. Jahrhundert und über die Kultur des burgundischen Hofs.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Malte Prietzel, Rezension von/compte rendu de: Alexandre Grosjean, Toison d’or et sa plume. La »chronique« de Jean Lefèvre de Saint-Rémy (1408–1436), Turnhout (Brepols) 2017, 390 p., 11 fig., 4 pl. en n/b (Burgundica, 25), ISBN 978-2-503-56910-9, EUR 84,00., in: Francia-Recensio 2018/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45553