Als Codex (epistolaris) Carolinus wird die von Karl dem Großen veranlasste Sammlung von 99 Papstbriefen an die regierenden Karolinger aus den Jahren von 739 bis 791 bezeichnet, die abschriftlich allein in einem ehemals Kölner, heute Wiener Codex aus dem späteren 9. Jahrhundert überliefert ist. Ihr einzigartiger Quellenwert beruht darauf, dass die Briefe im Unterschied zu den rückblickend und verzerrend berichtenden historiografischen Quellen unmittelbaren Einblick in den Wandel der Beziehungen zwischen den Päpsten und den Karolingern geben. Die maßgebliche Textedition von Wilhelm Gundlach erschien 1892 (MGH. Epistolae, Bd. 3, S. 469–657). Außerdem gibt es schon seit 1962 eine Faksimileausgabe von Franz Unterkircher (Codex epistolaris Carolinus. Österreichische Nationalbibliothek Codex 449 [Codices selecti phototypice impressi, 3]). In seiner Regensburger Habilitationsschrift von mehr als 1000 Druckseiten hat Achim Thomas Hack 2006/07 eine umfassende Synthese des Forschungsstandes vorgelegt (Codex Carolinus. Päpstliche Epistolografie im 8. Jahrhundert [Päpste und Papsttum, 35]).

Einen weiteren Zugang eröffnet die vorliegende zweisprachige Ausgabe, das Gemeinschaftswerk eines Mittelalterhistorikers und einer Mittellateinerin, die auf die spezifischen Erfahrungen ihrer jeweiligen Dissertationen zurückgreifen konnten (Florian Hartmann, Hadrian I. Frühmittelalterliches Adelspapsttum und die Lösung Roms vom Kaiser in Byzanz, Stuttgart 2006; Tina B. Orth-Müller, Philologische Studien zu den Papstbriefen des Codex epistolaris Karolinus, Berlin 2013). Sie bieten eine konzise Einleitung, die neben dem Quellenbefund vor allem den historischen Kontext beleuchtet, aber relativ knapp auf Sprache und Stil der Briefe eingeht und am Schluss ankündigt, dass die 99 undatierten Briefe in der Reihenfolge der Wiener Handschrift und nicht gemäß der von Gundlach rekonstruierten (nicht unumstrittenen) Chronologie präsentiert werden. Die dadurch erforderliche doppelte Nummerierung (Konkordanz S. 26–28) dürfte es schwer haben, sich in der internationalen Forschung durchzusetzen. Der lateinische Text entspricht mit ganz wenigen, jeweils einleuchtenden Eingriffen der MGH-Ausgabe, die zudem um etliche Nachweise von Bibelstellen und weiteren Textvorlagen bereichert worden ist. Die eigentliche Leistung besteht in der erstmaligen deutschen Übersetzung, die sich die beiden Herausgeber je zur Hälfte aufgeteilt haben. Sie verdient uneingeschränktes Lob, weil sie dem manchmal bis zur Unverständlichkeit schwierigen Latein mit viel sachlichem Verständnis und terminologischer Konsequenz beikommt, soweit das überhaupt möglich ist. Da sie durchweg auch gut zu lesen ist, wird sie künftig eine fühlbare Hilfe für Forschung und Lehre sein.

Beigefügt sind ein kleines Glossar (zeittypischer Termini) sowie ein Personen- und Ortsregister, in dem »Appolinaris, Bf. v. Reggio (756–781)« ohne Seitenzahl aufgeführt ist, offenbar weil er in dem Band gar nicht vorkommt. Kritisch ist anzumerken, dass Matthias Becher der Autor des S. 12, Anm. 7 anonym zitierten Aufsatzes ist und dass der S. 64, Anm. 65 als Vorlage nachgewiesene Brief Papst Pelagius’ I. († 561) nicht aus einer Kanonessammlung entnommen sein kann, die um Jahrhunderte jünger ist als der Codex Carolinus.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Rudolf Schieffer, Rezension von/compte rendu de: Florian Hartmann, Tina B. Orth-Müller (Hg.), Codex epistolaris Carolinus. Frühmittelalterliche Papstbriefe an die Karolingerherrscher, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2017, 448 S. (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, 49), ISBN 978-3-534-26806-1, EUR 79,95., in: Francia-Recensio 2018/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45556