Das Forschungsfeld der Katastrophen wurde in den letzten Jahren deutlich ausgebaut und hat erfreulicherweise auch die Mediävistik berührt. Die Arbeiten hervorragender Wissenschaftler, wie Jacques Berlioz’ »Les catastrophes naturelles et calamités au Moyen Âge« (1998), Christian Rohrs »Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit« (2007), die Studien von Christian Pfister oder neuerdings der Sammelband von Gerrit Jasper Schenk »Historical Disaster Experiences Towards a Comparative and Transcultural History of Disasters Across Asia and Europe« (2017) haben die Katastrophenstudien an die vorderste Front der Mittelalterforschung geholt. Die nun erschienene Monografie von Thomas Labbé trägt zu dieser Tendenz bei, das Studium der Katastrophen im Mittelalter in ihren historischen und sozialen Kontext zu stellen. Labbés Arbeit konzentriert sich auf Westeuropa, insbesondere auf die Gebiete des heutigen Frankreich, Italien, Belgien, Deutschland und der Niederlande, zieht aber auch Beispiele aus Böhmen, England oder Spanien heran. Sie bedient sich einer Breite von Quellen, richtet ihre Aufmerksamkeit aber vor allem auf Chroniken, da diese, nach Auffassung Labbés, die umfassendste Perspektive bieten (S. 33).
Labbés Studie trägt dazu bei, den Begriff der Katastrophe zu historisieren. Er erinnert seine Leserschaft daran, dass die Sozialwissenschaften die Katastrophe nicht allein als einfaches Resultat eines extremen Phänomens betrachten, sondern als »systemisches Ereignis«, das durch spezifische soziale Dynamiken und eine bestimmte Lesart der Realität als Antwort auf bestimmte Codes oder gedankliche Schemata hervorgebracht wird (S. 13f.).
Wir müssen verstehen, wie ein einfaches Geschehen »evenementalisiert«, zu einem Ereignis gemacht wird. Labbé zeigt, dass das Wort »Katastrophe« (in seiner heutigen Bedeutung) selbst erst im 16. Jahrhundert auftaucht (S. 17). Er nimmt den Begriff »par sa définition générique« und analysiert das historische Vokabular, welches das gleiche semantische Feld abdeckt. So untersucht Labbé den Begriff casus, der in seinen Quellen synonym zu fortuna, eventus, aber auch ruina und periculum verwendet wird. Er zeigt, dass Begriffe wie casus und fortuna nicht die ganze Breite des modernen Wortes »Katastrophe« abdecken. Casus meint oft einfach ein abruptes Geschehen, »il fonctionne en fait dans les récits médiévaux de phénomènes naturels en binôme avec d’autres notions: celle de signum, prodigium, miraculum, etc.« (p. 21). Die Verwendung des Wortes signum, ähnlich wie die von prodigium oder miraculum, bezogen auf extreme Naturereignisse, bezeugt, dass die Reflexionen mittelalterlicher Autoren auf die Finalität des Geschehenen, auf eine mögliche höhere Bedeutung gerichtet sind. Labbé erklärt: »C’est autour de cet [casus-signum] axe que doit être envisagée la perception des phénomènes naturels dans la pensée médiévale« (S. 47). Bei der Entwicklung solcher kultureller Begriffsanalysen ist er sich der Schwierigkeiten bewusst, die der Versuch mit sich bringt, die Kultur illiterater Bevölkerungsschichten auf diesem Wege begreifen zu wollen. Wieder nutzt er Chroniken und Annalen als essenzielle Quellen für die Beziehung zwischen der Welt der literaten und illiteraten Bevölkerung. Chronisten nehmen einerseits die Vorstellungen auf, die in Enzyklopädien und anderen Werken mit naturphilosophischen Grundgedanken vorherrschen, doch sie beschreiben andererseits oft auch die vulgaris opinio, Gerüchte und Reaktionen des gemeinen Volkes (S. 93–110).
Neben diesen methodologischen Punkten diskutiert das Buch die Konzeptualisierung und die Interpretation von extremen natürlichen Phänomenen. Das Augenmerk liegt dabei auf der Rolle der Naturphilosophie und der Theologie, aber auch der emotionalen Reaktionen in der Bewertung extremer Ereignisse, insbesondere durch Chronisten (S. 50). In seiner Analyse der Erklärungen von Naturereignissen sucht Labbé nach Konstanten in der Vielfalt (S. 57f.). Damit leitet er über zum grundlegenden Problem der Differenzierung zwischen Interpretationsmustern des Mittelalters und denen der frühen Neuzeit. Labbé weist richtig darauf hin, dass mittelalterliche Lesarten extremer Phänomene gleichzeitig naturalistisch und theologisch sein konnten (S. 72). Sorgfältig untersucht er die Darstellung, dass Ereignisse gegen die Natur (contra naturam) sein konnten, und welche Vorstellungen von der Existenz »gewöhnlicher« Phänomene sie voraussetzt (S. 90).
Labbé beobachtet weitere Unterschiede, die seit dem 15. Jahrhundert auftauchen, wie die Aufmerksamkeit, die Giannozzo Manetti in seinem »De Terraemotu« den sozial-demografischen Auswirkungen des Erdbebens von 1456 zukommen lässt (S. 74–79). Dabei warnt er jedoch auch vor einer zu strikten Trennung zwischen mittelalterlichen und modernen Einstellungen: Das Buch zeigt deutlich, dass Reflexion über die Umwelt nicht allein eine Charakteristik der modernen und postmodernen Welt ist (S. 158). Männer und Frauen im Mittelalter waren durchaus in der Lage, ihren Einfluss auf die sie umgebende Welt zu reflektieren, wie in einer Vielzahl von spätmittelalterlichen Statuten deutlich wird, die eine ständige Beschäftigung mit der Rationalisierung von Ressourcen und der Verhinderung der Degeneration der Umwelt bezeugen (S. 115).
Labbé beschäftigt sich in seiner Studie auch mit der Intervention von Autoritäten bei der Hilfe von Katastrophenopfern, in erster Linie in Form von »Beihilfen« durch günstige fiskalische Regelungen in den Gebieten, die von extremen Naturereignissen betroffen waren (S. 211–219). Er zeigt aber auch, dass sich die Sichtweise auf die Opfer im 15. und 16. Jahrhundert änderte. Katastrophen wurden zunehmend »dramatisiert« und ihre Opfer wurden wahrgenommen. Berichte über Opferzahlen und finanzielle Verluste durch extreme Ereignisse in den Quellen werden häufiger und präziser (S. 261–267). Genau wie Opfer, so produzieren Katastrophen in der Neuzeit auch Helden, die den Opfern helfen, zum Beispiel in Gestalt der Autoritäten (S. 270). Das Subjekt der Naturkatastrophe gewinnt einen autonomen Raum. Es wird zum Objekt philosophischer und literarischer Werke, welche die tragische Dimension der Wirklichkeit reflektieren. Wir erleben einen Übergang von einer Mentalität des signum zu einer des Desasters: »Or, si le signum médiéval s’exprime par l’observation des éléments contra naturam accompagnant l’événement, le désastre s’observe à travers la destruction et les victimes produites par le même type d’événement« (S. 272).
Labbés Buch präsentiert eine originelle und gut informierte Analyse der Konstruktion katastrophaler Ereignisse in der Kultur des Mittelalters. Seine Fülle an Informationen und seine durchdringenden Beobachtungen machen es zu einem Meilenstein nicht nur für die Erforschung von Katastrophen im Mittelalter, sondern für die hoch- und spätmittelalterliche Kultur im Ganzen. Einzig eine Verbindung von Naturkatastrophen mit der Wirtschaftsgeschichte der Epoche könnte man sich noch wünschen. Wirtschaftliche Aktivitäten verbinden Menschen und ihre Umwelt. Hier können zukünftige Forschungen vom Werk Labbés profitieren, um das Verständnis der gesellschaftlichen Wahrnehmung und der Reaktionen auf extreme Umweltereignisse weiter zu schärfen. Diese Anregung für künftige Forschungslinien soll dem Buch von Thomas Labbé jedoch nicht zur Kritik gereichen. Es wird für viele Jahre den Anfangspunkt einer jeden mediävistischen Beschäftigung mit dem Thema Naturkatastrophen bilden.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Michele Campopiano, Rezension von/compte rendu de: Thomas Labbé, Les catastrophes naturelles au Moyen Âge. XIIe–XVe siècle, Paris (CNRS Éditions) 2017, 349 p., ISBN 978-2-271-08947-2, EUR 26,00., in: Francia-Recensio 2018/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45560