Man könnte leicht glauben, dass zu den Themen »Marienverehrung« und »Reliquienkult« im Mittelalter schon zu viel geschrieben wurde, um dazu noch eine thèse de doctorat zu verfassen. Das hier besprochene Buch, das auf einer kunsthistorischen Dissertation beruht, die unter der Leitung von Nicolas Reveyron angefertigt und 2010 an der Universität Lyon II verteidigt wurde, zeigt, dass dies ein Irrtum ist. Ausgangspunkt und Zentrum der Untersuchung sind die sogenannten »Reliquien-Bilder«. Es handelt sich hierbei um Tafelbilder, Diptychen oder Triptychen mit Darstellungen der Jungfrau mit dem Kind, die auf Holz oder Glas gemalt und von einem breiten Rahmen eingefasst sind, in dem sich Reliquien und mitunter sogar Edelsteine befinden.
Diese Reliquiare verbreiteten sich vor allem in Kleinpolen seit etwa 1420. Ikonografische und formale Vorläufer dieses Typus konnten in Byzanz ausgemacht werden, die dann in der Malerei des italienischen Trecento weiterentwickelt wurden. Hierbei spielt das Sieneser Modell des Marientragealtars eine besondere Rolle. Dieser fand seit den 30er Jahren des 14. Jahrhunderts immer mehr Verbreitung. Vergleichende stilistische Studien machen es wahrscheinlich, dass dieser direkt aus Italien oder indirekt über Böhmen die polnische Produktion des Reliquien-Bildes beeinflusst hat.
Die Verbreitung dieser Tafel-Reliquiare lässt sich mit der Devotio moderna in Verbindung bringen, einer Bewegung, die eine Erneuerung der Frömmigkeit zum Ziel hatte und in Mitteleuropa große Verbreitung fand. Der Wunsch nach erschwinglichen und für den privaten Bereich geeigneten Reliquiaren kam auf. Diese sollten auch als Haus- oder Tragaltäre benutzt werden können. So sollten in einem Objekt mehrere für den Kult wirksame Elemente vereinigt werden: Ein Marien- und Christusbild, z. T. mit der Formel »Regina Cœli« beschriftet und mit Reliquiensplittern umrahmt, konnte die Hoffnung auf Wunder berechtigt erscheinen lassen.
Die hier in groben Zügen dargestellte Entwicklung basiert auf einer erstaunlich umfangreichen Quellenbasis. Anna Maria Migdal hat die von ihr zugrunde gelegten Reliquienbilder in Katalogform detailliert beschrieben und in einem insgesamt 68 Seiten langen ikonografischen Anhang abgedruckt, sodass ihre Darstellung auch für den Nichtspezialisten nachvollziehbar wird. Ein Glossar der termini technici und zwei Register, die die zitierten Eigen- und Ortsnamen umfassen, erleichtern ebenfalls die Arbeit mit diesem Band, der sich keineswegs nur an Kunsthistoriker wendet und wieder einmal beweist, wie sehr ikonografische Quellen zum Verständnis einer Epoche beitragen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Klaus Krönert, Rezension von/compte rendu de: Anna Maria Migdal, Regina Cœli. Les images mariales et le culte des reliques. Entre Orient et Occident au Moyen Âge, Turnhout (Brepols) 2017, 438 p., 26 p. de pl., 136 ill. (Hagiologia. Études sur la Sainteté en Occident – Studies on Western Sainthood, 12), ISBN 978-2-503-56858-4, EUR 95,00. , in: Francia-Recensio 2018/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45563