Der Streit um die Lehre des Mönchs Gottschalk von Orbais (806/808?–868/869) von der Prädestination des Menschen zum ewigen Heil ebenso wie zur ewigen Verdammnis hat im Frankenreich des mittleren 9. Jahrhunderts jahrelang hohe Wellen geschlagen. Die Quellenbasis ist im Laufe des 20. Jahrhunderts durch glückliche Neufunde (vor allem von Cyrille Lambot, 1945/1958) und einige präzisierte Zuschreibungen spürbar bereichert worden, weshalb die ältere Forschungsliteratur weithin überholt ist. Unter den jüngeren Bemühungen um eine angemessenere und nicht allein auf theologische Positionen fixierte Betrachtungsweise stellt das vorliegende Werk, erwachsen aus einer thèse an der Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne von 2014, einen neuen, wenn nicht den Höhepunkt dar.

Der Autor, nach einer Tätigkeit an der Universität Tübingen nun an der Université Paris-Est Marne-la-Vallée beschäftigt, beginnt mit dem üblichen Rückblick auf die bisherige Spezialliteratur und zeichnet, darauf gestützt, im 1. Kapitel (S. 43–97) noch einmal Gottschalks bewegten Lebensweg und die Entwicklung der von ihm ausgelösten Kontroverse nach. Das dient ihm indes nur als Grundlage für seine S. 99 einsetzenden tiefer schürfenden Überlegungen, die, abermals chronologisch voranschreitend, bisher kaum erfasste Hintergründe und Zusammenhänge zum Vorschein bringen sollen. So geht es zunächst um Gottschalks bekannte sächsische Herkunft, die Warren Pezé mit (streckenweise kühnen) namenkundlichen, genealogischen und besitzgeschichtlichen Argumenten dahingehend konkretisiert, dass der Vater Bern der (von Reinhard Wenskus rekonstruierten) »Ricdag-Sippe« angehörte und die Mutter Liba fränkischem Adel im Saalegau entstammte. Die Verwurzelung in der Reichsaristokratie dürfte 829 die Lösung vom Kloster Fulda und den Weggang Gottschalks in den Westen der Francia erleichtert haben, wo er Zugang zu höchsten Kreisen und zumal zu Erzbischof Ebo von Reims gewann. Dessen Sturz (834/835) sieht W. Pezé als Beweggrund für Gottschalks Wechsel nach Italien an, wo er unter der Herrschaft Lothars I. Aufnahme bei Kaiser Ludwigs Schwiegersohn, Markgraf Eberhard von Friaul, fand und durch seine Prädestinationslehre aufzufallen begann. Möglicherweise deswegen wich er für Jahre in die Mission auf dem Balkan (bis nach Bulgarien) aus, war aber 848/849 wieder zur Stelle, als er auf Betreiben des Hrabanus Maurus und Hinkmars von Reims von den Synoden in Mainz und Quierzy als Häretiker gebrandmarkt und in lebenslange Klosterhaft nach Hautvillers verbracht wurde.

Die Art, wie in diesem 2. Kapitel (S. 99–177) gesicherte biografische Fakten mit der allgemeinen historischen Entwicklung verwoben werden, kann als kennzeichnend für das ganze Buch gelten, das mit durchweg plausiblen, aber nicht zwingend beweisbaren Kombinationen konsequent versucht, die Einengung des Blickwinkels auf bloßes »Theologengezänk« zu überwinden. Demgemäß handeln das 3. und das 4. Kapitel (S. 179–214, 215–299) nicht allein von den nach der Verurteilung einsetzenden Streitschriften für und gegen Gottschalks Doktrin, sondern weit mehr von deren Urhebern und ihren Beziehungen zu Karl dem Kahlen, vom Verhalten des Hofklerus, von den Spannungen innerhalb des westfränkischen Episkopats (mit Hinkmar im Zentrum) und von rivalisierenden Gruppen unter den weltlichen Großen. Mindestens »une certaine cohérence« (S. 271) konstatiert der Verfasser dabei zwischen dem Drang der Verteidiger Gottschalks nach einer päpstlichen Entscheidung und einem Hauptanliegen der pseudoisidorischen Fälscher.

Im 5. Kapitel (S. 301–367) wechselt W. Pezé erneut die Perspektive, indem er nach der sozialen Tiefenwirkung des strittigen Problems fragt, das für jeden gläubigen Christen von existenziellem Belang sein musste. Die Sorge vor der Wirkung des virus auf die simplices, an die Hinkmar 849 ausdrücklich seine erste Denkschrift zum Thema richtete, spielte für ihn ebenso wie für Hraban eine große Rolle und trieb sie zu harten disziplinarischen Maßnahmen, mit denen vor allem der »einfache« Klerus im Kontakt mit dem Kirchenvolk beeindruckt werden sollte. In Traktaten beider Seiten wird das publizistische Bestreben spürbar, die komplexe patristische Debatte aus dem 5. Jahrhundert für das Fassungsvermögen von theologisch Ungebildeten zu plausibilisieren. Die Analyse der Argumentationsweisen führt dann im 6. Kapitel (S. 369–427) zu dem schon häufiger erörterten Phänomen der Fälschungen bzw. Deformationen überkommener Texte in den Schriften Hinkmars, aber auch anderer Polemiker der Zeit, das sich in deren kopialer Überlieferung fortsetzt. W. Pezé präsentiert hierzu weitere handschriftliche Befunde, die Manipulationen verschiedenster Art zu erkennen geben, betont aber zugleich, dass tatsächlich unberechtigte Fälschungsvorwürfe genauso zum gängigen Arsenal der damaligen Streitschriften gehörten.

Erst am Schluss wird als 7. Kapitel (S. 429–483) eine enquête archivistique geboten, die Beobachtungen zur Vielzahl der Marginalnotizen in den untersuchten Codices, zur erstaunlichen räumlichen Reichweite der Auseinandersetzung, zu informellen Stoffsammlungen (Florilegien) und zur Genese von Hinkmars »De praedestinatione« von 859/860 zusammenträgt. Spezielle Materialien finden sich in den Anhängen (S. 494–519).

Warren Pezés Werk, dessen reicher Inhalt hier nur in seinen Grundzügen nachgezeichnet werden kann, beruht auf gediegener Kenntnis der internationalen, aus verschiedenen Disziplinen erwachsenen Literatur. Es führt deutlich über eine kritische Reflexion des Forschungsstandes hinaus und dürfte die Diskussion um den Prädestinationsstreit auf absehbare Zeit beherrschen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Rudolf Schieffer, Rezension von/compte rendu de: Warren Pezé, Le virus de l’erreur. La controverse carolingienne sur la double prédestination: essai d’histoire sociale, Turnhout (Brepols) 2017, 565 p., 2 col., 18 b/w ill. (Haut Moyen Âge, 26), ISBN 978-2-503-57015-0, EUR 90,00., in: Francia-Recensio 2018/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45566