Der vorliegende Sammelband geht auf eine im April 2013 am University College London und am Warburg Institute abgehaltene Tagung zurück. Der in Form einer Frage formulierte Tagungstitel »Catharism: Balkan Heresy or Construct of a Persecuting Society?« zeichnete schon im Voraus die »Frontlinien« ab, welche die gegenwärtige Katharismusforschung durchziehen und die – wie der Tagungsband verrät – auch bei der Londoner Zusammenkunft aufbrachen.1 Im Zentrum der Kontroverse, die für Außenstehende wie ein Sturm im Wasserglas anmuten muss, die jedoch die Forscherinnen- und Forscher-»Community« richtig durchschüttelt, steht nämlich nichts weniger als das Forschungsobjekt selbst: die Existenz des Katharismus als eigenständige, in der Zeit kontinuierliche und im Raum strukturierte Erscheinung, die sich im Mittelalter vom Balkan her nach Italien und Südfrankreich ausbreitete. Diese – überkommene – Lehrmeinung ist in letzter Zeit mit den Argumenten angegriffen worden, der Katharismus sei kein eigenständiges Phänomen, sondern zum einen das Produkt seiner Verfolger, d. h. der Inquisition, zum anderen dasjenige der Geschichtsschreibung seit dem späten 19. Jahrhundert. Sollte die Londoner Tagung einen Konsens zwischen den sogenannten Traditionalisten und Skeptikern (das Begriffspaar wird von Robert Ian Moore in seinem Beitrag verwendet) erzielen, so wurde die Vorgabe klar verfehlt; vielmehr zeugen die veröffentlichten Tagungsakten vom bestehenden Dissens, der, wie der Herausgeber Antonio Sennis festhält, die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes aufzeigt: »After all, even when disagreeing with each other, the essays here collected all contribute to make medieval religious and political deviance emerge in all its complexity, richness and specificity« (S. 20).
Einer der Hauptskeptiker, um bei der eingeführten Terminologie zu bleiben, ist Mark Gregory Pegg, dessen »The Corruption of Angels. The Great Inquisition of 1245–1246« (2001) die Forschung aufgemischt hat. Im Londoner Tagungsband verficht er – unter dem provokativen Titel »The Paradigm of Catharism; or, the Historians’ Illusion« – die auffällig polemisch vorgetragene These, der Katharismus sei eine Erfindung von Historikern (»an enduring invention of late nineteenth-century scholars of religion and history«, S. 21), die sämtliche Nachweise für Häresie aus dem 12. und 13. Jahrhundert mit dem Katharismus-»Label« versehen und so die angeblich entdeckte Realität selbst erschaffen hätten (S. 29). Dieser Irrtum habe in der Katharismusforschung bis in die Gegenwart überdauert. So etwas wie eine katharische Häresie gab es für Pegg erst nach dem und infolge des großen Verfolgungsschubs in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts.
Die bereits zuvor in den Quellen belegten »guten Männer«, in der »traditionalistischen« Auffassung die eigentlichen Vertreter der katharischen Lehre, die das Rückgrat des Katharismus bildeten, müssen von Pegg deshalb auf umständlich anmutende Weise »wegerklärt« werden. Dabei scheint er ihre Spezifizität insofern verwischen zu wollen, als er die boni homines mit probi homines gleichsetzt (S. 39). Dieser letzte Begriff bezeichnet aber in einem nichthäretischen Zusammenhang, d. h. in der Regel, örtliche Respektspersonen bzw. Schöffen, die in der lokalen Selbstverwaltung eingesetzt waren. Diesen boni oder eben (nach Pegg) probi homines sei eine religiös aufgeladene Ehrerbietung zuteil geworden (Pegg spricht u. a. von »holy cortezia«), deren Charakterisierung reichlich diffus wirkt: »This was a world where the sacred ebbed and flowed through (and around) all humans, so that questions of holiness as much as questions of honour were answered through courtliness« (S. 39).
Eine besondere Erwähnung verdient das in Inquisitionsquellen so genannte melioramentum. Nach »traditionalistischem« Verständnis handelt es sich um den spezifisch katharischen Akt der Ehrerbietung gegenüber einem bonus homo, bei Pegg wird daraus ein allgemeiner Ausdruck der von ihm ins Spiel gebrachten »heiligen Höflichkeit«. Wir können im gegebenen Rahmen nicht alle Argumentationslinien von Mark Gregory Pegg nachzeichnen, grundsätzlich haben wir jedoch den Eindruck, dass das vom Verfasser bekämpfte »traditionalistische« Katharermodell schlüssiger und argumentativ ökonomischer ist als die vorgelegten Alternativen.
Partiellen Sukkurs erhält Pegg im vorliegenden Band von Julien Théry-Astruc und Robert Ian Moore. Théry-Astuc sieht die Genese der zur Diskussion stehenden Häresie (unter Vermeidung des Begriffs »Katharer«) nicht in der von den »Traditionalisten« vertretenen »Balkan-Connection«, sondern im Widerstand gegen die Gregorianische Reform. Er folgt Pegg in der Ansicht, dass es nicht vor Ende des ersten Viertels des 13. Jahrhunderts war, dass sich »gewisse Dissidenten« im Languedoc unter dem Druck der repressiven Kirche einer dualistischen Weltanschauung zuwandten, welche die gesamte – materielle – Schöpfung dem Teufel zuschrieb (S. 81), das traditionell mit dem Katharismus in Verbindung gebrachte Dogma.
Auch Julien Théry-Astruc kommt auf die boni bzw. probi homines zu sprechen, wobei er präzisiert, dass vor allem der erste Begriff für die Bezeichnung der »dissidenten Geistlichen« (»dissident ministers«) gebräuchlich war. Die beiden Bezeichnungen – die Théry-Astruc ebenfalls synonym verwendet – seien, so hält er fest, schon vor dem von ihm selbst als Kristallisationsmoment des häretischen Dualismus identifizierten Zeitpunkt im Umlauf gewesen, allerdings (und das ist der springende Punkt) ohne spezifische dissidente oder religiöse Konnotation (S. 99). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Julien Théry-Astruc die »häretische Dissidenz der ›guten Männer‹ im Albigeois« (so der Titel seines Beitrags) – ungleich des weit polemischeren Pegg – weniger als Erfindung der Geschichtsschreibung sieht denn als Produkt einer repressiven Kirchenpolitik. Darin steht er im Einklang mit Robert Ian Moore, der grundsätzlich davor warnt, Erkenntnisse, die aus Quellen aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gewonnen werden – also aus Quellen aus dem Zeitraum, der den »Skeptikern« als Inkubations- und Geburtszeit eines strukturieren Katharismus gilt –, auf das 12. Jahrhundert zurückzuprojizieren (S. 258).
Dezidierter Widerstand erwächst den »radikalen Skeptikern« bzw. »Dekonstruktivisten« (wie sie von Jörg Feuchter genannt werden) durch diesen selbst und Peter Biller. Feuchter greift das Argument an, der Katharismus sei eine klerikale bzw. inquisitorische Konstruktion, indem er in einer chronologisch regressiven Reihenfolge drei einschlägige Quellen präsentiert, die einem vergleichsweise unverdächtigen Entstehungszusammenhang entspringen. Die erste Quelle ist das Penitentenregister des Inquisitors Peter Sellan aus dem Jahr 1241, aus dem hervorgeht, dass die reumütigen, mit einer Kirchenbuße belegten »Ketzer« aus Montauban sehr wohl zwischen den Waldensern und einer zweiten Gruppe, den heretici, zu unterscheiden wussten. Der zweite Begriff, so Feuchter, »is clearly not a catch-all name for religious dissidents of all sorts, but the designation for a certain group distinct from the Valdenses and which non-deconstructivists would identify […] as ›Cathars‹ or ›Albigenses‹« (S. 118). In der zweiten Quelle aus dem Jahr 1189 ist die Rede von einer Frau, die sich selbst Männern, die heretici genannt werden, »übergeben« habe. Das dritte Beispiel ist ein Ausschnitt aus der Universalchronik des syrischen Patriarchen Michael zum Ende der 1170er-Jahre, in dem von häretischen Bischöfen die Rede ist.
Peter Billers Beitrag ist eine scharfe Auseinandersetzung mit der Vorgehensweise von Mark Gregory Pegg und Robert Ian Moore. Auch hier können wir nicht jeder Argumentationslinie folgen und müssen uns auf einige grundsätzliche Anmerkungen beschränken. Bei der Diskussion von Peggs »The Corruption of Angels« wirft Biller dem Autor dessen dünne Quellenbasis vor: »a microscope on one set of depositions contained in just one manuscript« (Toulouse, Bibliothèque municipale, ms. 609); was Moore betrifft – Autor von drei einschlägigen Büchern, die zwischen 1977 und 2012 erschienen sind –, kritisiert Biller in Bezug auf das letzte, »The War on Heresy«, wiederum die dünne Quellenbasis, zudem auch Moores Abhängigkeit von Pegg (S. 281). Die Konsequenz eines so selektiven Quellengebrauchs seien Auslassungen. Biller hält beiden Verfassern vor, dass Hinweise auf eine katharische »longue durée« auf diese Art gekappt würden; insbesondere Pegg macht sich in Billers Augen einer äußerst partiellen Verwendung der Quellen schuldig, in der das, was nicht in seine Theorie passt, ausgeblendet wird. Bei der Auseinandersetzung mit Moores »The War on Heresy« greift Biller eine Reihe von Postulaten auf, die hier nicht einzeln beleuchtet werden sollen, denen er aber Punkt für Punkt widerspricht.
Abgesehen von den beiden skizzierten Positionen, der »traditionalistischen« und der »skeptischen«, deren jeweilige Verfechter sich in einem historiografischen Stellungskrieg zu befinden scheinen, enthält der Sammelband eine Reihe von Beiträgen, die nicht immer ausdrücklich Position zu beziehen brauchen, die mit ihrem thematischen Facettenreichtum indes eher den »Traditionalisten« in die Hände spielen: Je vielschichtiger das Phänomen des Katharismus erscheint, desto schwieriger ist es, Letzteren als eigenständige Erscheinung »wegzuerklären«. Bernard Hamilton und Yuri Stoyanov gehen der umstrittenen katharischen »Balkan-Connection« nach, die einen byzantinischen und altkirchenslawischen Hintergrund hat, der für Nichtfachleute nur schwer zu erfassen ist. Die Häresiologie würde von einem verstärkten Austausch zwischen der lateinisch-katholischen und der byzantinisch- bzw. altkirchenslawisch-orthodoxen Forschung nur profitieren. David d’Avray verweist auf zwei weitere nicht-katholische Quellen, den katharischen »Liber de duobus principibus« und den waldensischen »Liber antithesis« des Durandus von Osca (Huesca). Beide sind aus epistemologischer Sicht ungemein aufschlussreich: Der zuletzt auf die Mitte des 13. Jahrhunderts datierte »Liber de duobus principibus« dokumentiert eine wertvolle katharische Innenansicht, die von internen doktrinalen Zerwürfnissen geprägt ist. Diese Quelle lässt sich nur schlecht mit der »skeptischen« Annahme vereinbaren, wonach der katharische Dualismus erst unter dem Druck der Inquisition entstanden wäre. Das gleiche gilt für den »Liber antithesis«, dessen Autor ein gegen 1207/08 zum Katholizismus konvertierter Waldenser war, der sich vor seiner Konversion – und damit vor dem von den »Skeptikern« ins Feld geführten Kristallisationsmoment eines eigenständigen Katharismus – kritisch zum katharischen Dualismus äußerte.
Einen ausgesprochen antikatharischen Charakter haben auch die antihäretischen Traktate der beiden Dominikaner Ranier Sacconi und Moneta von Cremona, die von Caterina Bruschi und Lucy J. Sackville vorgestellt werden. Wir wollen hier nur auf den ersten der zwei um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstandenen Texte eingehen, da sein Verfasser, Ranier Sacconi, ein in den 1240er-Jahren konvertierter dualistischer Häretiker war, der gegen seine ehemaligen Glaubensbrüder anschrieb. Raniers Beschreibung der katharischen Riten zeugt davon, so Caterina Bruschi, dass er sich deren Veränderbarkeit im Laufe der Zeit bewusst war (»Ranier’s awareness of the evolution of practices over time and space«, S. 198) – auch das ein Hinweis auf eine längere katharische Geschichte als von den »Skeptikern« postuliert. Das Tableau der antihäretischen Diskurse wird durch denjenigen der Päpste Innozenz III. (1198–1216) und Honorius III. (1216–1227) ergänzt, auf den Rebecca Rist eingeht.
Die gegenwärtige »Katharer-Diskussion« hat auch eine terminologische Komponente. Wie sollen die Häretiker, um die es geht, genannt werden? Als mögliche Alternative zum belasteten Begriff »Katharer« erwägt Claire Taylor den Ausdruck boni homines, der, wie wir oben gesehen haben, abhängig vom Inhalt, mit dem er gefüllt wird, auch nicht unproblematisch ist – und der von der Autorin am Ende ihrer Untersuchung verworfen wird: Zum einen finden sich Beispiele dafür, in denen boni homines nicht als fester Terminus technicus verwendet wurde, sondern als moralische Charakterisierung diente (ein guter Mensch im Gegensatz zu einem schlechten). Zum anderen scheint der Begriff vorwiegend eine von den Gegnern verwendete Fremdbezeichnung gewesen zu sein.
Das Schlusswort in der animierten Auseinandersetzung um das (Nicht-)Wesen des Katharismus möchten wir – anders als im Buch – nicht den Wortführern der beiden im Ring stehenden Parteien erteilen, sondern John H. Arnold (im Band an dritter von insgesamt 14 Positionen). Nach einer historiografischen Einordnung der Debatte führt Arnold einige grundsätzliche methodologische Überlegungen an. Dabei legt er den Finger auf die ungleich geringere Quellendichte vor dem Ende des 12. Jahrhunderts. Das 13. Jahrhundert sah eine eigentliche Quellenexplosion, die sowohl die absolute Menge an Zeugnissen als auch die Anzahl verschiedener Quellengattungen betrifft. Dazu gehören auch Quellenarten, in denen die Häresie nicht im Zentrum des Interesses steht, sondern gleichsam beiläufig (»as a circumstantial detail«, p. 59) erwähnt wird.
Beides, sowohl die vorangehende Quellendürre als auch der nachfolgende Quellenreichtum, stellen die Forschung vor Herausforderungen. Was die Quellendürre betrifft, so führt sie laut Arnold dazu, die wenigen Dokumente unter der Lupe zu betrachten und sie zu sezieren (»a source-critical tendency to pull apart and atomize, treating each source as most obviously and securely evidence only for its own moment of production«, p. 61). Abgesehen davon, dass ein solcher Ansatz in einem quellenreicheren Umfeld nicht mehr möglich ist (was natürlich nicht heißt, dass einzelne Dokumente nicht einer genauen Prüfung unterzogen werden sollen), lässt die größere Quellenfülle einen facettenreicheren, auch widersprüchlicheren Eindruck von der Realität entstehen.
Wenn also aus »skeptischer« Warte argumentiert wird, dass der Katharimus als strukturierte, Grenzen überwindende Erscheinung von der Inquisition erschaffen wurde, stellt sich mit Arnold die berechtigte Frage nach der Variabilität innerhalb der zahlreichen erhaltenen Prozessmitschriften: »It is certainly not methodologically wise to see inquisition registers as open windows into the past; but nor should we dismiss them as mere articulations of an unvarying orthodox script, as immersion in these records inevitably makes one aware of how much small elements vary between otherwise repetitious depositions« (S. 67).
Eine weitere zur Vorsicht mahnende Überlegung betrifft das Verhältnis der Quellen untereinander: Nimmt man aus der Fülle der im 13. Jahrhundert entstandenen Dokumente ein einzelnes Stück weg, bleibt der Gesamteindruck bestehen; anders verhält es sich in der vorausgehenden quellenärmeren Zeit (»Take one star out of the constellation of Taurus, and it will cease to look like a bull’s horns. Take one star out of the Milky Way, and it still looks like a galaxy«, S. 71). Vor diesem Hintergrund kritisiert Arnold an Peggs Ansatz, dass er seine in der Mitte des 13. Jahrhunderts entstandene Quelle, die Toulouser Handschrift ms. 609, wie ein Dokument aus der Zeit vor dem Jahr 1200 behandelt habe, also isoliert von den anderen gleichzeitigen Quellen. Oder, um in der astronomischen Metaphorik zu bleiben: »Treating MS 609 in this way allows Pegg to conjure up a lot of ›black space‹ around the bright star« (S. 73). Die künstliche Isolierung dieser einen Quelle führe dazu, andere methodologische Ansätze zu übergehen.
Die Londoner Tagung, aus welcher der vorliegende Sammelband hervorgegangen ist, endete im Dissens. Allerdings ist es gerade diese Disharmonie, die das Thema so spannend macht, indem sie zu vertieften Überlegungen zu Fragen der Quellenauswahl und -interpretation Anlass gibt. In der Mediävistik wird nicht häufig so intensiv um Erkenntnis gerungen, wie es bei dieser Thematik der Fall ist. Das ist der eigentliche Gewinn der Debatte.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Georg Modestin, Rezension von/compte rendu de: Antonio Sennis (ed.), Cathars in Question, Woodbridge (The Boydell Press) 2016, VIII–332 p. (Heresy and Inquisition in the Middle Ages, 4), ISBN 978-1-903153-68-0, GBP 60,00., in: Francia-Recensio 2018/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45568