Mit der Publikation seiner höchst eindrucksvollen Ausgabe der »Sermones in Regulam s. Benedicti« gewährt Jörg Sonntag der Leserschaft erstmals Zugang zu einem Text, der bisher noch nicht die Beachtung gefunden hatte, die er zweifellos verdient. Trotz der Studien von Charles Talbot, die Ende der 1950er und 1960er Jahre erschienen, ist dieser Text in der Forschung weitgehend unbeachtet geblieben1. Sonntag bezeichnet den Text gar als »Geheimtipp unter Ordensforschern« (S. XI).

Die vorliegenden sermones wurden Anfang des 13. Jahrhunderts verfasst und werden dem französischen Zisterzienserkloster von Pontigny zugeschrieben. Sie stellen damit nicht den ersten Kommentar zur Benediktinerregel dar; frühere Regelkommentare, wie etwa der des Hildemar von Corbie im 9. Jahrhundert, sind bekannt; es handelt sich jedoch hierbei allem Anschein nach um den einzigen mittelalterlichen Kommentar zur Benediktinerregel von Zisterzienserhand. Der Herausgeber beschreibt das Werk, heute in der Bibliothèque municipale von Auxerre (ms. 50), als »Regelkommentar und Predigtreihe zugleich« (S. XXV), deren Inhalt sowohl als Predigten vor der Klostergemeinschaft als auch zur individuellen Kontemplation der Mönche gedient zu haben scheint. In den Kommentaren werden die Mönche vom Autor direkt angesprochen: Mehrfach findet sich die Anrede fratres im Text. Sonntags Edition wird begleitet von einem Vorwort von Nicole Bériou, nach deren Meinung das Werk möglicherweise während des Abbatiats Johannes' II. von Pontigny (1202–1214) verfasst wurde.

Bei den sermones handelt es sich um 95 Predigten zur Regel des heiligen Benedikt. Eines nach dem anderen, behandelt der Autor die einzelnen Kapitel der Benediktsregel, wobei jedem der 73 Kapitel mindestens eine Predigt gewidmet ist. Dem Kapitel VII, das die Demut behandelt, sind hingegen nicht weniger als 13 Predigten zugeordnet. Was dieses Werk, unter anderem, so bedeutend macht, ist die Art und Weise, wie der Autor im Text das irdische Klosterleben und das Gottesreich miteinander verflechtet, indem er etwa Gott selber die Rolle eines Abtes überträgt oder indem er irdische Mönche und Engel miteinander konfrontiert.

Der Autor der Kommentare ist unbekannt; was wir über ihn sagen können, kommt aus dem Text selber. Fest steht, dass er ein überaus belesener Theologe war und über herausragende Lateinkenntnisse verfügte. Außerdem demonstriert er seine Vertrautheit mit den Werken bedeutender Zisterzienserautoren, wie etwa Bernhard von Clairvaux, Aelred von Rievaulx oder Wilhelm von Saint-Thierry. Ferner lässt der Autor seine Kenntnis der Kirchenväter durchklingen. Zu den Quellen des »liturgisch hervorragend geschulten« (S. XIX) Autors der sermones gehören unter anderem die Bücher Jesaja und Ezechiel, die Psalmen, das Hohelied und die Briefe des Neuen Testaments, wobei der Autor seine liturgischen Vorlieben demonstriert. Insbesondere der Vers vom Sturz des Weltenherrschers im Buch des Propheten Jesaja (Is 14, 13–14) wird in jeder einzelnen der 95 Predigten zitiert.

Die Länge der Predigten zur Benediktinerregel beträgt im Schnitt um die 2000 Wörter; einigen Themen jedoch, wie etwa den Kapiteln XXXI (zum Kellerer), XLIII (zur Pünktlichkeit) oder LV (zur Kleidung der Mönche), widmet der Autor längere Kommentare.

Sonntag hebt die Besonderheiten dieses Regelkommentares hervor, wobei er unter anderem dessen »immense Länge» (in der vorliegenden Edition beläuft sich diese auf über 750 Seiten) betont, sowie auch die Tatsache, dass es sich bei dem Text um den einzigen zisterziensischen Regelkommentar zu handeln scheint, der im hohen und späten Mittelalter entstanden ist. Darüber hinaus betont er die Bedeutsamkeit, den Text als ein Ganzes zu betrachten, wie es von seinem anonymen Autor offenbar beabsichtigt war: In einzelnen Predigten finden sich Hinweise auf vorhergehende Textstellen. In seiner Einleitung bezeichnet Sonntag dieses außerordentlich interessante Werk nicht zuletzt deshalb als »einen enzyklopädischen Gesamtentwurf monastischer Spiritualität« (S. XIX) und weist damit auch auf die enorme Bedeutsamkeit des Textes für den Klosterhistoriker hin.

Der Herausgeber hat für seine Edition eine visuelle Wiedergabe des Textes gewählt, die dem Original möglichst nahe zu kommen versucht. Zu diesem Zweck benutzt er verschiedene Zeichensätze, um die verschiedenen Handschriften darzustellen. Ferner verwendet er eine Kombination aus Fuß- und Endnoten, um einerseits die Referenzen aus Texten wie der Benediktregel, der Bibel usw. und andererseits die in der Handschrift durchgeführten Änderungen und Korrekturen darzulegen.

Sonntags Edition dieses umfangreichen Werkes zeichnet sich durch sorgfältige und minutiöse Arbeit aus; ihm sei gratuliert und gedankt für den herausragenden Dienst, den er der Forschung mit dieser Ausgabe leistet. Derzeit in Vorbereitung, so informiert uns der Herausgeber in seiner Einleitung, sind zwei weitere Bände zum selben Text, und zwar erstens ein Kommentarband zu den sermones und zweitens eine Übersetzung derselben. Sie werden zur Vervollständigung dieses bedeutenden Projekts beitragen.

1 Charles Talbot, A Cistercian Commentary on the Benedictine Rule, in: Studia Anselmiana 5 (1958), S. 102–159; id., The Commentary on the Rule from Pontigny, in: Studia Monastica 3 (1961), S. 77–122.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Karen Stöber, Rezension von/compte rendu de: Jörg Sonntag (ed.), Sermones in Regulam s. Benedicti. Ein zisterziensischer Regelkommentar aus Pontigny, Münster (LIT-Verlag) 2016, 846 S. (Vita Regularis. Editionen, 6), ISBN 978-3-643-13428-8, EUR 124,90., in: Francia-Recensio 2018/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45570