Michel Zink, hochdekorierter Kenner der französischen Literatur des Mittelalters und jüngst unter die »Unsterblichen« der Akademie berufen, legt ein Buch vor, das aus einem Aufschrei erwächst. Er möchte Position beziehen und seiner zutiefst empfundenen Verzweiflung angesichts der brutalen Taten und Bilder Ausdruck verleihen, mit denen die politischen und ideologischen Konflikte des 20. und 21. Jahrhunderts uns medial überrollen – man denke etwa an den IS, der per Video die Erniedrigung seiner Opfer inszeniert (S. 7–20). Kristallisationspunkt der emotionalen Reaktion des Autors und ihrer intellektuellen Verarbeitung ist das Motiv der Demütigung: Dieses bildet den Leitfaden der essayistisch angelegten Darstellung, welche die Exzesse der demütigenden Grausamkeiten in unserer Zeit auf eine Weise reflektieren soll, die dem Spezialisten der mittelalterlichen Literatur offensteht (S. 19–20).
In einem Durchgang durch bekannte wie weniger prominente Textzeugnisse verfolgt Zink das Doppelmotiv der Demut und der Demütigung, zwischen denen er das (christliche) Mittelalter auf charakteristische Weise gespalten sieht. Während einerseits die weltlichen Normen einer adligen Kultur zur Gesichtswahrung nötigen – und dabei dazu aufrufen, lieber den Tod in Kauf zu nehmen als einen Ehrverlust –, sind dieselben Individuen als Christen durch das Beispiel Jesu zur Demut aufgefordert. Diese Spannung zu überbrücken, stellt nicht nur die Individuen auf eine harte Probe, sondern die ganze Gesellschaft. Auf die resultierende Ambivalenz fokussiert der erste Teil des Bandes, der zunächst die Besonderheit des mittelalterlichen Normensystems im Vergleich zu den antiken (besser wohl den »vorchristlichen«) Wertungen unterstreicht (S. 24–28), denen die Demut als Tugend unbekannt war. Mit Ruth Benedicts Werk zur Kultur Japans schlägt Zink vor, die Unterscheidung zwischen »shame culture« und »guilt culture« zu nutzen, um den Kontrast zwischen Antike und europäischem Mittelalter zu fassen. Anhand reicher Beispiele, die vom Troubadour-Grafen Wilhelm IX. von Aquitanien bis zu Jean Froissarts breit angelegter Chronik reichen, illustriert er sodann die zahlreichen Spannungspotenziale, die das polare Paar Demut und Demütigung in der hoch- und spätmittelalterlichen Adelskultur und ihren Momenten ostentativer Öffentlichkeit produzieren konnte. Auch wenn sich mit dem Christentum die Demut als Tugend etablierte, so ist doch weiterhin ein stetes Oszillieren zwischen wahrer und vollkommener Demut einerseits und letzten Reflexen des Stolzes andererseits zu beobachten. Schließlich eröffnet ja bereits der demütigende Tod des Gottessohns am Kreuz in einer dialektischen Bewegung den Weg zur glorreichen Erhöhung, wie Zink mit Verweis auf den Apostel Paulus unterstreicht (S. 39f.). Insgesamt aber machte die christliche Lehre die Demut zur Aufgabe, der sich – nicht zuletzt im Sakrament der Beichte – der Gläubige zu unterziehen hatte (S. 58–66). Gewissermaßen als Blütenleser durchschreitet Zink entsprechend die breite Tradition von Petrus Cantor über Bernhard von Clairvaux zu Thomas von Aquin, wobei Franz von Assisi natürlich ein besonders prominenter Platz zukommt (S. 76–84).
Auf diesen stärker systematisch ausgerichteten Durchgang anhand der Begriffe »Demütigung« und »Demut« (humiliation, humilité) folgt ein umfangreicherer zweiter Teil zu den »Gedemütigten« (humiliés). Diese findet Zink vorrangig in literarischen Texten und fokussiert dabei auf drei Figurenkomplexe: den Narren (eine unzureichende Übersetzung für den schillernden Begriff des fou), den Armen, Kranken und/oder Alten sowie den liebenden Ritter. Einfühlsam und auf breiter Materialbasis lässt der Autor die französischsprachige Literatur des späten Mittelalters Revue passieren und arbeitet die einschlägigen Momente heraus. Dabei wird rasch klar, dass die genannten Kategorien bestenfalls heuristisch zu unterscheiden sind, begegnen doch immer wieder berühmte und eindrucksvolle Grenzgänger: Als fou sind eben nicht nur tumbe Randfiguren auszumachen, wie der aggressiv-einfältige Sohn in Adam de la Halles »Jeu de la Feuillée« (S. 124–129), sondern auch der liebende Tristan kann eine entsprechende Rolle annehmen (S. 94–98), von Lanzelot oder Yvain ganz zu schweigen. Ausführlich präsentiert Zink auch die Geschichte von »Amadas et Ydoine« (S. 103–111), die ebenfalls die Nähe von Liebe und Wahn inszeniert.
Als Leitmotiv kommt hier ein Grundgedanke hinzu, den Zink wiederholt unterstreicht: Die Demütigung liegt im Blick der anderen (S. 110) und ist auf diese Weise als Akt eines Exhibitionismus zu fassen. Dies gilt auch für die Armen, Kranken und Alten, die bereits im höfischen Roman begegnen, die Zink aber vor allem anhand selbstreflexiver Dichtungen vorführt: Damit geraten u. a. Jean Bodel und Baude Fastoul in den Blick (S. 146–159), die ausführlich ihre Lepraerkrankung thematisieren und in der Form der Dichtung zugleich ihren Abschied aus der Gesellschaft inszenieren. Krankheit und Alter stellen zwar andere Schicksalsschläge dar als die rang- oder rollenbezogene Demütigung im sozialen Miteinander, wie sie etwa Ganelon im Rolandslied widerfährt (S. 192–199), aber der demütigende Effekt lässt sich immer wieder aufs Neue an die soziale Interaktion zurückbinden – hierin wird man dem Autor wohl ohne Weiteres zustimmen können. An anderen Stellen wird man dagegen skeptisch rückfragen: Ist wirklich die relative Unsicherheit des Hofpoeten, der gefallen muss, die »demütigendste Situation« überhaupt (S. 173), die »Essenz der Demütigung« (S. 177)? Hängt Demütigung stets mit dem Sexuellen zusammen (S. 208)? Und wie ist dieses eigentlich mit dem »Intimen« verbunden?
Gerade auf solch generelle oder superlativische Aussagen mag man zurückhaltend reagieren. Vor allem aber stellt sich nach vollbrachter Lektüre die Frage, wie der Durchgang durch die ausgewählten Momente der mittelalterlichen Literatur nun mit unserer Gegenwart zu verhängen ist? Der knappe Epilog (S. 211f.) argumentiert genealogisch: Zink zufolge verdankt die »westliche Zivilisation« (civilisation occidentale, also vielleicht das »Abendland«?) dem Mittelalter seine (wenngleich oft beschränkte) Fähigkeit, sich mit den Gedemütigten zu identifizieren. Diese Einschätzung wird man trefflich diskutieren können. Was mit dem Blick auf die mittelalterliche Literatur damit tatsächlich für unsere Gegenwart gewonnen ist – und darum sollte es bei einem solchen Aufschrei ja auch gehen – bleibt damit aber vorerst offen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Klaus Oschema, Rezension von/compte rendu de: Michel Zink, L’humiliation, le Moyen Âge et nous, Paris (Albin Michel) 2017, 264 p., ISBN 978-2-226-31903-6, EUR 20,00., in: Francia-Recensio 2018/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45573