Der 2016 erschienene Sammelband »Le travail de retour sur le passé à l'époque de la Seconde République autrichienne« (wörtlich: Die Arbeit am Rückblick in die Vergangenheit während der Zweiten Republik) nimmt die beiden Wahlgänge für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten 2016 als Ausgangspunkt, um die Geschichte der Zweiten Republik anhand des Umgangs und der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus Revue passieren zu lassen – mit einem Schwerpunkt auf literarischen und filmischen Diskursen über die Vergangenheit. Damit stellt der Band gewissermaßen eine kritische Reise durch die Opfernarrative und ihre Symbolkraft als Gründungsmythen der Zweiten Republik dar.

In den Vorbemerkungen geben Anne-Marie Corbin und Marc Lacheny einen historischen Überblick über das Spannungsverhältnis von Vergangenheitsbewältigung und Vergangenheitsverdrängung im Verlauf der Politik- und Kulturgeschichte; wobei das Konzept der »Aufarbeitung« im Vergleich zur »Bewältigung« wenig präsent ist.

Ute Weinmann beleuchtet im rezenten Eröffnungsbeitrag des Sammelbands die politischen und sozialen Rahmenbedingungen und die (Grenzen) des offiziellen Gedächtnisses am Beispiel politischer Debatten, die Weinmann mit Hinweise auf literarische und künstlerische Auseinandersetzungen verbindet. Die Waldheim-Affäre und der 50. Jahrestag des »Anschlusses« dienen als erster Ausgangspunkt um hervorzuheben, dass die Forschung längst nicht mehr von einer Opferthese im Singular spricht. In einer berühmten Rede vor dem Nationalrat 1991 betonte Bundeskanzler Franz Vranitzky nicht nur die Mitverantwortung der Österreicherinnen und Österreicher für die Verbrechen des Nationalsozialismus, sondern forderte ebenso die moralische Verantwortung der Zweiten Republik ein. Weinmann argumentiert, die Kultur des offiziellen Erinnerns habe sich damit grundlegend verändert und der Staat moralische Verantwortung übernommen. Das werde etwa in der Wehrmachtsausstellung von 1995, dem 2000 am Judenplatz in Wien errichteten Mahnmal für die österreichischen Opfer der Shoa und in jüngster Zukunft auch dem Haus der Geschichte Österreich in Wien evident.

Mit der literarischen Auseinandersetzung mit den Auslösern dieses Prozesses beschäftigt sich der Beitrag von Jacques Lajarrige. Er illustriert diesen Wandel am Beispiel der von Milo Dor herausgegebenen Anthologie »Die Leiche im Keller: Dokumente des Widerstandes gegen Dr. Kurt Waldheim« (1988). Lajarrige betont die Besonderheiten der Anthologie: Sie stehe am Übergang zwischen zwei Generationen und habe somit einen kritischen Diskurs etablieren können; aus der Waldheim-Debatte hervorgegangen, evoziere sie eine über diese hinausreichende Auseinandersetzung mit der Mitverantwortung an Nationalsozialismus und Holocaust; im Gegensatz zu anderen Stellungnahmen interpretiere sie die Waldheim-Debatte schlussendlich als positiv, da sie eine neue Form der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bewirkt habe; und diese Anthologie begleite den Wandel des Paradigmas von der Opferthese zur Mitverantwortungsthese.

Karl Zieger stellt einen beinah in Vergessenheit geratenen Roman und seine ebenso beinah vergessene Autorin Lilli von Sauter vor: Im autobiografisch-fantastischen Roman »Ruhe auf der Flucht« (1951) entwirft von Sauter ein Bild von der Konfrontation einer Dorfgemeinschaft im fiktiven Andorf (angelehnt an den Wohnort der Autorin) mit den Folgen des zu Ende gehenden Zweiten Weltkriegs. Der Roman, so Zieger, biete einen überaus differenzierten Entwurf und gleichwohl eine Dekonstruktion der Dorfgemeinschaft, die von Kriegserlebnissen und ihrem Verhalten im Krieg und während der Tage der Befreiung geprägt sei. Am Erleben dieser Dorfgemeinschaft mache von Sauter das Wiedererwachen einer österreichischen Identität fest.

Jürgen Doll stellt eine neue Interpretation von Jean Amérys Verhältnis zu Österreich vor: Ein »Rückzug in die Bücher« – die Literatur der Jahrhundertwende – habe es Améry erlaubt, auch nach zu größtem Ekel veranlassenden Ereignissen wie der Borodajkewycz-Affäre und dem beschämenden Verlauf der KZ-Prozesse, sich weiterhin als Österreicher zu bezeichnen. Amérys »verlorene Heimat«, so Doll, sei weniger die »Welt von gestern« (Arthur Schnitzler gehörte zu Amérys Lieblingsautoren) als »die Bücher von gestern«1.

Éric Leroy du Cardonnoy illustriert an Arno Geigers Roman »Es geht uns gut« (2005) wie es möglich sei, »über die Vergangenheit [zu] erzählen ohne sie zu benennen«. Dabei verlange Geiger, so Leroy du Cardonnoy, von seinen Lesern und Leserinnen harte Arbeit, die nur zu ungern aufgebracht werde – nämlich sich zu erinnern. Der Roman fordere individuelle Erinnerungen, Gruppengedächtnisse wie auch das kollektive Gedächtnis heraus und provoziere beziehungsweise ermögliche so überhaupt erst kritische Reflexion. Dass dies dem Roman gelingt, wird durch eine anschauliche Analyse des Wechselspiels der Erzähltechnik Analepse und des Stilmittels Ellipse gezeigt.

Mit Erinnerungsparadigmen im Bundesland Kärnten setzten sich zwei Beiträge im Sammelband auseinander: Bernard Banoun möchte einem »Kärntner Paradigma« nachspüren, welches nicht als gegeben vorausgesetzt werden solle, sondern das in literarischen Auseinandersetzung entstehe. Hierfür zieht Banoun drei verschieden vorgehende Autorinnen und Autoren heran: Werner Kofler, Josef Winkler und Maja Haderlap. Kofler entwickle ein Bild basierend auf Analysen in Archiven; Winkler hingegen eine verschärfte Subjektivität, die zur persönlichen wie kollektiven Therapie werde; und Haderlap eine Geschichtsentdeckung unter dem Zeichen der aus der Geschichte zu ziehenden Lehren und der aufzufüllenden Lücken.

Anlässlich der 2015 auf Französisch erschienen Übersetzung des Romans »Engel des Vergessens« (2011) stellt Herta Luise Ott ebenfalls die Lyrikerin und Prosaautorin Maja Haderlap vor. An ihrer Biografie und ihrem Werk wird Einblick in die Autoren- und Autorinnenszene der slowenischen Minderheit in Kärnten und in den Umgang mit dieser Bevölkerungsgruppe gegeben. Dabei steht der mit besonderer Symbolkraft ausgestattete Begriff »zwischenland« im Fokus – ein zwischenland, in dem sich die (sprachliche) Pluralität entfalte, die sonst von dem Opfernarrativ der deutschsprachigen Mehrheitsbevölkerung (welches, so Ott, in Kärnten eine spezifische Ausprägung erfahre) überschattet werde. Haderlap entwerfe das zwischenland als Sehnsuchtsort, welcher etwa in dem dreisprachig erschienen Band »Gedichte – Pesmi – Poems« (1998) wiedererkannt werden könne, in welchem es Haderlap gelinge, performativ Wege aus der »Sackgasse« der Zweisprachigkeit Kärntens aufzuzeigen.

Anne-Marie Corbin beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit den Erfahrungen von Exilantinnen und Exilanten am Beispiel von Axel Cortis Film »Welcome in Vienna« (1986). Der Film thematisiert die Rückkehr ehemaliger Exilanten und Exilantinnen. Besonders spannend erscheine hier, dass er im Rahmen der Waldheim-Debatte u. a. im Österreichischen Rundfunk (ORF) gezeigt wurde. Corbin analysiert die Reaktionen der Presse und Medien und kommt zu dem Schluss, der Film sei im Ausland – vor allem in Frankreich, wo er in Cannes gezeigt wurde – viel erfolgreicher gewesen als in Österreich selbst.

Den Sammelband schließt Paul Pasteur mit einer historischen Einbettung der Präsidentschaftswahlen von 2016 zwischen politischen Brüchen und Kontinuitäten in der Ersten und Zweiten Republik ab. Damit wirft der Sammelband verschiedene Perspektiven auf mehrere literarische sowie eine filmische Reaktion zur Debatte über die Verantwortung Österreichs, der Österreicher und Österreicherinnen an Nationalsozialismus und Holocaust. Das Vorwort und der Schlussbeitrag bilden für die Leserschaft eine Klammer, die der historischen Einbettung dient, und schaffen so die Grundlage dafür, die spezifischen Fallstudien literarischer und filmischer Werke nachvollziehen zu können. Damit ist der Band für ein breites Lesepublikum von Interesse.

1 Gerhart Baumann, Arthur Schnitzler. Die Welt von Gestern eines Dichters von Morgen, Frankfurt a. M. 1965; anspielend auf Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, London, Stockholm 1942.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Susanne Korbel: Anne-Marie Corbin, Marc Lacheny (dir.), Le travail de retour sur le passé à l’époque de la Seconde République autrichienne, Mont-Saint-Aignan (Presses universitaires de Rouen et du Havre) 2016, 200 p. (Austriaca. Cahiers universitaires d’information sur l’Autriche, 82), ISBN 979-10-240-0683-3, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2018/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45577