Der vorliegende Sammelband versucht, Geschichte nicht aus Sicht der Sieger zu schreiben – was ja, wie so häufig behauptet wird, die Regel ist. Vielmehr geht es um die Geschichte der Niederlage – oder, da Sieg und Niederlage ja nur zwei Seiten derselben Medaille sind, darum, wie die Unterlegenen mit der Niederlage umgehen. Der Band beschränkt sich dabei seinem Untertitel zufolge auf Beispiele aus dem Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, und selbst bei dieser Selbstbeschränkung ergibt sich, so viel sei vorab gesagt, eine breite Palette von Themen und Aspekten.

Einführung und Zusammenfassung der Herausgeber rahmen vier große Themengruppen mit jeweils drei oder vier Beiträgen ein. »La défaite conjurée« würde man am besten mit »Die gebannte Vergangenheit« übersetzen; hier geht es ausschließlich um den Zweiten Weltkrieg. Eine Detailstudie über den Umgang der Franzosen mit der Versenkung ihrer Flotte in Toulon 1942 eröffnet den Reigen. Johann Chapoutot interpretiert Hitlers Weigerung bis zum Schluss, einer Kapitulation zuzustimmen, als Ausdruck dessen, dass das eigentliche Kriegsziel, die Vernichtung der europäischen Juden, erreicht worden sei. Leider verwechselt er aber konsequent das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) mit dem 1931 gegründeten Rasse- und Siedlungshauptamt der SS (RuSHA). Umgekehrt legt der dritte Beitrag dar, warum in der Sowjetunion der zweiten Jahreshälfte 1941 das Wort »Niederlage« nicht geäußert werden konnte.

Der zweite Abschnitt über die »Neu interpretierte Niederlage« (»La défaite réinterprétée«) greift weiter aus und beginnt mit einem Beitrag darüber, wie Zar Alexander I. 1812 aus einer drohenden katastrophalen Niederlage durch eine geschickte Kombination politischer und militärischer Maßnahmen einen strategischen Sieg machte. Eine Vignette zu Navarino 1827 erläutert, wie diese »Schlacht ohne Krieg« letztlich von allen Beteiligten – Briten, Franzosen, Griechen und Türken – sowohl als Sieg als auch als Niederlage gedeutet wurde. Danach greift der Band noch einmal zu den Freiheitskriegen von 1812 bis 1815 zurück und widmet sich der Perzeption der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813. Welchen systematischen Erwägungen hier gegenüber einer Chronologie der Vorzug gegeben worden ist, erschließt sich dem Rezensenten allerdings nicht so ganz.

Zuletzt breitet Jörg Echternkamp vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (Potsdam) aus, wie die ost- und westdeutschen Nachkriegsgesellschaften die Niederlage von 1945 jeweils verarbeitet oder politisch instrumentalisiert haben. Während Echternkamp zu Recht fragt, wie weit die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker 1985 tatsächlich die Befindlichkeit breiter Teile der westdeutschen Bevölkerung wiedergab, bleibt ein wenig offen, wie die Ostdeutschen wirklich über die jährlichen Feiern zur »Befreiung vom Hitlerfaschismus« gedacht haben – und warum nach der »Wende« von 1989/90 plötzlich überall in der ehemaligen DDR die alten Kriegerdenkmäler wieder auftauchten.

Der dritte Abschnitt (»La défaite sédimentée«) eröffnet mit einem Aufsatz über die Schlacht auf dem Amselfeld 1389. Nanu, der Leser blättert auf das Titelblatt zurück – der Band behandelt doch das 19. und 20. Jahrhundert? Ja, aber hier geht es darum, wie die Erinnerung an die Niederlage (die das aber nur in der nationalistischen Romantisierung ist – in der historischen Überlieferung ist gar nicht so eindeutig, wer gewonnen oder verloren hat) vom serbischen Nationalismus instrumentalisiert worden ist. Nicht zuletzt Slobodan Milošević hat die Erinnerung an »Kosovo Polje« (so der Name auch im Französischen) immer wieder benutzt – wobei der Aufsatz auch im Umgang damit immer erfreulich sachlich und neutral bleibt. Marco Mondini dreht das Thema quasi um: Italien hat seit seiner Staatswerdung die meisten Schlachten verloren und sich damit sogar im Inneren einen eher antikriegerischen Ruf erworben, dennoch aber die Kriege zumeist erfolgreich und mit territorialen Gewinnen abgeschlossen.

Maurice Carrez stellt dar, wie die Niederlage im Winterkrieg gegen die Sowjetunion 1939/40 zu einem nationalen Mythos Finnlands wurde. Eine nähere Betrachtung ergibt aber, dass die viel zitierte nationale Einigkeit weder vor dem Krieg noch an seinem Ende gegeben war, und dass diese Zerrissenheit des Landes auch über 1944 hinaus fortdauerte. Etwas überraschend kommt der letzte Beitrag: In einem Band, der sich dem 19. und 20. Jahrhundert verschrieben hat, wirkt ein Aufsatz über Alésia und Vercingetorix auf den ersten Blick deplatziert. Auch seine Aussage, dass Cäsars Sieg am Ende vergebens gewesen sei, betrachtet die Geschichte dann eher wieder aus der Perspektive derer, die gewonnen haben.

Mathieu Jestin und François-Xavier Nérard fassen in ihrem Schlusskapitel nicht einfach die vorhergehenden Aufsätze zusammen. Sie systematisieren vielmehr zum einen nach dem realen Gehalt einer Niederlage (Untergang ganzer Staatssysteme, Auftakt zu Wiederauferstehung und Vergeltung …), zum anderen danach, wie die Niederlage (und von wem!) erzählt wird. Hier bekommen dann auch Alésia und Vercingetorix ihren konzeptionellen Ort. Mehr noch: Die beiden Autoren weiten den Blick auf die Zeit nach 1945. Warum redet man in der westlichen Welt der Nachkriegszeit nicht mehr von der Niederlage? Vielleicht, weil Dien Bien Phu oder die Evakuierung der amerikanischen Botschaft in Saigon (heute Ho-Chi-Minh-Stadt) das eigene Land nicht in existentielle Gefahr gebracht haben? Oder weil der Blick vom heroischen Kämpfer weg auf die Opfer gerichtet ist, die letztlich bei Sieg und Niederlage in gleicher Weise anfallen?

Insgesamt regt der Band dazu an, die Perspektive gelegentlich zu wechseln. Er zeigt mit seinen gelungenen Beiträgen durchaus auf, welchen Gewinn die moderne Militärgeschichtsforschung aus solchen Perspektivwechseln ziehen könnte.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Winfried Heinemann, Rezension von/compte rendu de: Corine Defrance, Catherine Horel, François-Xavier Nérard (dir.), Vaincus! Histoires de défaites. Europe, XIXe–XXe siècles, Paris (nouveau monde éditions) 2016, 335 p., 19 n/b fig., 1 tabl. (Histoire nouvelle de l’Europe), ISBN 978-2-36942-465-9, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2018/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45578