Dass die Geschichte des Terrorismus die Geschichte eines Kommunikationsprozesses ist, der sich über das Moment der Provokation staatlicher Gewalt durch eine spezifische Radikalisierungsdynamik auszeichnet, ist eine in der Historiografie politischer Gewalt inzwischen klassisch gewordene Konzeptualisierung.1 Selbst Sozialhistorikerinnen und Sozialhistoriker, die den neueren entschlossen und bis zur letzten Konsequenz performanz- und erzähltheoretisch argumentierenden Ansätzen nicht folgen würden, teilen die Einsicht in die kommunikativen Dimensionen des Phänomens. Die Wahrnehmung durch die »Augen Dritter« (Rainer Paris) ist für das Verständnis einer politisch motivierten Gewalttat als Terrorismus konstitutiv und wird in die Geschichte des Terrorismus zumeist mit dem Verweis auf die Bedeutung der modernen Medien eingebracht.2
Eine fundierte Analyse, welche die sozialwissenschaftlich konstatierte Abhängigkeit von Terrorismus als labelling process von der Entwicklung der Nachrichtentechniken und der Professionalisierung und Internationalisierung der Presseorganisation empirisch nachweist und für das 19. Jahrhundert konkret macht, liegt nun mit der Publikation der überarbeiteten Fassung der Gießener Habilitationsschrift von Carola Dietze aus dem Jahr 2013 vor.
Nach einer theoretischen Einleitung charakterisiert Dietze in umfassend kontextualisierenden Kapiteln zunächst das misslungene Attentat Felice Orsinis auf Napoleon III. im Jahr 1858 sowie den Überfall auf das Waffenarsenal Harpers Ferry 1859 durch den Abolitionisten John Brown als Momente der »Erfindung« des Terrorismus. Die Kapitel zeigen anschaulich die Handlungslogik des terroristischen Gewaltakts, die einerseits in der Provokation des Staats mit dem Ziel der »delegitimierenden Entlarvung machtvoller Gegner« liegt sowie andererseits – in der Diktion Peter Waldmanns –, die Erzeugung von »Unsicherheit und Schrecken« bzw. »Sympathie und Unterstützungsbereitschaft« anstrebt (S. 62).
Die beiden Fälle machen auch die Grundthese des Buchs exemplarisch plausibel, nach welcher der Terrorismus dort entstehe, wo eine unzufriedene Elite sich in einer nicht-revolutionären Situation in einer politischen Blockadesituation sehe, welche sie weder über politische Institutionen noch über den Aufruf zur kollektiven Gewalt zu beseitigen im Stande sei. Der Rückgriff auf individuelle Gewalt stelle in dieser Situation einen letzten Ausweg dar und entfalte über die, durch die Revolutionierung der Kommunikations- und Transportwege im 19. Jahrhundert bedingten, sich entwickelnden Massenmedien ihre politisch-symbolische Wirkkraft in der breiten Öffentlichkeit und bei der jeweiligen Regierung.
Die transatlantische Medienwirksamkeit der beiden prototypischen terroristischen Anschläge sollte, so Dietze, aufgrund ihres politisch-symbolischen Erfolgs alsbald drei »Nachahmer« finden: Oskar Wilhelm Becker mit seinem Attentat auf Wilhelm I., John Wilkes Booth mit seinem Attentat auf Abraham Lincoln und Dmitrij Vladimirovič Karakozov mit dem Attentat auf Aleksandr II. Alle drei Gewaltakte erfüllen Dietzes Kriterien terroristischer Akte: Alle drei »Nachahmer« versuchten eine politische Blockade mangels anderer Mittel durch individuelle Gewalt aufzulösen. Dabei setzten sie auf den psychologischen Effekt ihrer Tat, welchen sie mithilfe der Massenmedien zu erreichen hofften. Zu diesem Zweck haben sie, laut Dietze, die terroristische Taktik durch die Erfindung des Bekennerschreibens weiterentwickelt. Dass die Gewalttaten nicht zu den erhofften öffentlichen politischen Reaktionen führten, da es den Tätern nicht gelang ihre Botschaft erfolgreich zu vermitteln, schmälert nicht ihre Bedeutung für die Darstellung Dietzes: Im Ergebnis ihrer Fallstudien datiert sie die Geburt des Terrorismus aus dem Geist der europäisch-amerikanischen Moderne auf die acht Jahre von 1858 bis 1866.
Mit dieser Periodisierung leistet Dietze einen Beitrag zur Präzisierung der Zäsuren in der Geschichte des Terrorismus, der in Verbindung mit der These von der Gesellschafts- bzw. Entwicklungsblockade Diskussionsstoff liefert. Wird der Anfang des Terrorismus im Vier-Wellen-Modell nach David C. Rapoport mit einer anarchistischen Phase in den 1880er Jahren angesetzt und mit guten Gründen in einem auf fünf Phasen angelegten Modell auf 1870 vordatiert und um nationalistische Aspekte ergänzt, liegt nun eine gehaltvolle Analyse vor, die für eine Datierung auf die 1860er Jahre spricht.3 Diese ist mit dem Verweis auf die erste Globalisierung und die Entwicklung transnationaler Medienlandschaften in sich überzeugend, müsste aber nun stärker mit anderen Empirien in Beziehung gesetzt werden, insbesondere anderen Blockade-und Nichtblockade-Kontexten und auch anderen Historiografien, wie zum Beispiel zu Sicherheitskulturen im 19. Jahrhundert.
Dennoch: Selbst, wenn manche Leserin und mancher Leser auch nach der Lektüre des synthetischen Schlusskapitels der These von der »Erfindung« des Terrorismus in den acht Jahren nach 1858 noch mit leichter Zurückhaltung begegnen oder die daraus resultierende Geografie mit den »Erfinderländern« Italien und USA ausführlicher und auch in der Gegenprobe mit dem Kriterium der Blockade-Wahrnehmung diskutiert sehen möchten, leistet das Buch Wesentliches. Die mit diesem Band vorliegende Medien- und Kommunikationsgeschichte des 19. Jahrhunderts zeigt den Terrorismus nicht nur als Bestandteil politischer, ökonomischer und sozialer Modernisierungsprozesse in einer transnationalen Perspektive, sondern stellt ihn als Epochensignatur auch der Eisenbahn und dem Kunstdünger an die Seite (S. 630).
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Anne Kwaschik, Rezension von/compte rendu de: Carola Dietze, Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Russland und den USA 1858–1866, Hamburg (Hamburger Edition) 2016, 750 S., zahlr. s/w Abb., ISBN 978-3-86854-299-8, EUR 42,00., in: Francia-Recensio 2018/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45579