Mit der Entwicklung der sozialen Ungleichheiten im 20. Jahrhundert haben sich bisher vor allem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler befasst. Insbesondere die Thesen von Branko Milanović und Thomas Piketty sind in den letzten Jahren prominent diskutiert worden . Während Milanović die Entwicklung der sozialen Ungleichheit als Serie von langen Zyklen sieht und das »kurze 20. Jahrhundert« als Zyklus der Abnahme deutet, interpretiert Piketty das 20. Jahrhundert prinzipiell als Zeit der Verschärfung sozialer Ungleichheiten durch die Ausbreitung des Kapitalismus, die nur durch die Weltkriege unterbrochen wurde.

Mit Hartmut Kaelble äußert sich nun auch ein Historiker zu diesen Thesen und plädiert für eine differenziertere Betrachtung sowohl des Zeitraums als auch des Phänomens. Denn Kaelble wählt eine breite Definition von sozialen Ungleichheiten, die im Unterschied zu den beiden oben genannten und vielen anderen Studien nicht nur die Einkommens- und Vermögensverteilung berücksichtigt, sondern auch die Bildungs-, Wohn- und Gesundheitssituation der Menschen sowie ihre sozialen Aufstiegsmöglichkeiten und die Formen sozialer Distinktion. Ebenso sind die Wahrnehmung und die Debatte um soziale Ungleichheiten Teil seines Untersuchungsfeldes. Diese Aspekte will Kaelble für den Verlauf des 20. Jahrhunderts im europäischen Vergleich untersuchen. Dabei möchte er ausdrücklich nicht nur beschreiben, sondern auch nach Erklärungen für diese Entwicklungen suchen.

Nachdem er in seiner Einleitung dieses zweifellos ambitionierte Projekt dargelegt hat, erwartet man ein mehrbändiges Werk, das all diese Dimensionen des Phänomens berücksichtigt. Tatsächlich schafft Kaelble es aber auf 211 Seiten, diese verschiedenen Aspekte zu behandeln. Er geht dabei chronologisch vor und teilt seinen Untersuchungszeitraum in vier Epochen auf, die jeweils für eine andere Entwicklung der sozialen Ungleichheit stehen. Als Grundlage für seine Argumentation stützt er sich auf die von anderen Autoren und Institutionen bereitgestellten Studien und Daten.

Zuerst wendet er sich der Zeit vor 1914 zu, die er – ähnlich wie die bisherige Forschung – als einen Zeitraum des Anstiegs der sozialen Ungleichheiten darstellt. Kaelble weist zwar auf Milderungen der Ungleichheiten in den Bereichen Einkommen und Gesundheit hin, räumt aber ein, dass damals die Bevölkerung trotzdem die grundlegende Erfahrung gemacht habe, dass Industrialisierung die Ungleichheit verschärfte, während der Staat wenig regulierte. Auf diese Phase der Verschärfung folgt mit den Jahren zwischen 1914 und 1945 eine Zeit des Rückgangs der sozialen Ungleichheiten. Piketty und andere haben dies dem Effekt der Weltkriege zugeschrieben. Kaelble stellt sich deutlich gegen diese Deutung – und damit auch gegen die These, dass nur Kriege und Katastrophen die sozialen Ungleichheiten in einer kapitalistischen Gesellschaft reduzieren könnten. Er belegt dies insbesondere mit dem Verweis auf die 1920er Jahre, in denen es nicht die Kriegsfolgen waren, die die Ungleichheiten abmilderten, sondern politische Maßnahmen wie beispielsweise der Ausbau des Sozialstaats, die Gesundheitspolitik und die Erhöhung der Spitzensteuersätze.

Staatliche Intervention, aber auch enormes wirtschaftliches Wachstum waren dafür verantwortlich, dass auch in der dritten behandelten Epoche, den 1950er bis 1970er Jahren, die sozialen Ungleichheiten zurückgingen. Obwohl die bisherige Forschung übersehen hat, dass sich einige Dimensionen von Ungleichheit gar nicht änderten, wie beispielsweise die Einkommensunterschiede zwischen den Geschlechtern oder die Mietbelastungen, erscheint diese Zeit insgesamt doch als Phase der deutlichen Reduzierung der Ungleichheiten. Sie beweist, dass wirtschaftliches Wachstum nicht zwangsweise mit der Verschärfung von Ungleichheiten verbunden sein musste.

Der Beginn der 1980er bedeutet eine deutliche Zäsur für die Entwicklung der sozialen Ungleichheiten, denn seit dem Beginn des Jahrzehnts haben sich diese verschärft. Auf diese Entwicklung hat die Forschung wiederholt hingewiesen. Kaelble weist darüber hinaus auf eine Zweiteilung dieses Zeitraums hin, die bisher noch wenig beachtet wurde: Während in den 1980er und 1990er Jahren insbesondere die Mittelschicht große Verluste hinnehmen musste, verschärften sich seit dem Beginn des neuen Jahrtausends die Ungleichheiten an den extremen Enden der Einkommenshierarchie, also bei sehr armen und sehr reichen Menschen.

Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse widerspricht Kaelble in seinem Fazit einigen der großen Thesen zu diesem Thema. Er interpretiert das 20. Jahrhundert weder als Zyklus der allgemeinen Zunahme sozialer Ungleichheiten noch sieht er wachsende Ungleichheit als Normalität des Kapitalismus. Stattdessen unterstreicht er die gegenläufigen Entwicklungstendenzen der verschiedenen Dimensionen der Ungleichheit in den einzelnen Epochen, wodurch beispielsweise die sogenannte Wirtschaftswunderzeit an Glanz verliert und umgekehrt die 1980er Jahre an Finsternis.

Vor allem aber weist er auf die große Rolle der politischen Intervention hin, die in den verschiedenen Epochen oft die Ursache für die Reduzierung sozialer Ungleichheiten war. Eben diese Erkenntnis mache es unmöglich, die Zunahme von Ungleichheiten als Zwangsläufigkeit in der Entwicklung des Kapitalismus zu sehen. Kaelble argumentiert ebenfalls gegen die These, dass sich derzeit weltweit Ungleichheiten innerhalb von Gesellschaften verschärften und gleichzeitig zwischen den Ländern abmilderten. Die europäische Entwicklung spreche gegen diese Behauptung, denn es gebe ein neues Nord-Süd-Gefälle zwischen den europäischen Ländern.

Eben dieser differenzierte, gut recherchierte und auf einer Fülle von Daten basierende Widerspruch zu den heute diskutierten Großthesen über die Entwicklung sozialer Ungleichheiten macht Kaelbles Buch zu einer absolut lesenswerten Studie. Sicher könnte man kritisieren, dass Kaelble weniger Daten für die erste und mehr für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammenträgt, oder dass er die Länder Westeuropas ausführlicher betrachtet als jene Osteuropas. Allerdings tut dies der Überzeugungskraft seiner Argumentation keinen Abbruch. Positiv sticht vor allem hervor, dass Kaelble sich genau den Bereichen zuwendet, die die bisherige Ungleichheitsforschung wegen ihrer Fokussierung auf Einkommen und Vermögen oft vernachlässigt hat: etwa die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, Ungleichheiten der sozialen Aufstiegschancen, der Wohnsituation und Mietbelastung sowie die Wahrnehmung von Ungleichheiten. Durch die Betrachtung all dieser Dimensionen gelingt es Kaelble, ein sehr differenziertes Bild seines Untersuchungszeitraums zu zeichnen und bisherige Forschungsthesen zu korrigieren.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Sarah Haßdenteufel, Rezension von/compte rendu de: Hartmut Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M., New York (Campus Verlag) 2017, 211 S., ISBN 978-3-593-50679-1, EUR 19,95., in: Francia-Recensio 2018/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45583