Der französische Saint-Simonist und spätere Wirtschaftsberater Napoleons III. Michel Chevalier entwarf 1832 in einer Artikelserie für die Zeitschrift »Globe« den Plan für ein Netzwerk aus Eisenbahnstrecken und Wasserstraßen, das vom Mittelmeer ausgehend zu einer Verständigung der Völker Europas führen sollte. Die Ausweitung der modernen Verkehrswege war für Chevalier nicht einfach ein technisches Projekt, sondern beinhaltete Chancen zur Beendigung von Konflikten, deren Lösung bis dahin weder diplomatisch noch militärisch gelungen war. »Aux yeux des hommes qui ont la foi que l’humanité marche vers l’Association universelle, et qui se vouent à l’y conduire, le chemin de fer apparaît sous un autre jour [...]. Les chemins de fer changeront les conditions de l’existence humaine1

Wolfram Kaiser und Johan Schot verfechten in »Writing the Rules for Europe« die These, dass verwandte Ideen und Konzepte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Entstehung eines »technokratischen Internationalismus« in Europa begleiteten, der von Experten des Transports, der Kommunikation, der Industrie und der Landwirtschaft getragen wurde. Die beteiligten Ingenieure, Unternehmensvertreter und Verwaltungsfachleute glaubten, dass eine von ihnen ausgearbeitete technische Regelung von Infrastruktur- und Wirtschaftsmaßnahmen nicht nur zur Steigerung des Wohlstands der nationalen Gesellschaften beitragen würde, sondern auch zu einer Entpolitisierung und Rationalisierung zwischenstaatlicher Beziehungen. Ihre Lösung technischer Fragen schien den beteiligten Experten damit fruchtbarer als klassische Wege der staatlichen Diplomatie. In den Augen von Kaiser und Schot waren die Ergebnisse dieser Arbeit in internationalen Gremien und Organisationen durchaus dazu angetan, bereits Jahrzehnte vor den Anfängen der Europäischen Gemeinschaften nach dem Zweiten Weltkrieg eine »versteckte Integration« Europas voranzutreiben.

Damit richten sich die Autoren gegen politik- und geschichtswissenschaftliche Deutungen – wie sie u. a. Alan Milward prominent vertreten hat –, die in der Geschichte der europäischen Integration vor allem die Verteidigung nationaler Interessen durch staatliche Akteure am Werk sehen2. Kaiser und Schot wollen durch ihre Konzentration auf die internationale Expertenkultur besonders in den Bereichen Eisenbahnverkehr und Stahlwirtschaft zum einen zeigen, dass eine solche Sichtweise die längere historische Entwicklungslinie seit dem 19. Jahrhundert zu stark beschneidet. Zum anderen betonen sie, dass die nicht-staatliche Regelung technisch-wirtschaftlicher Fragen bereits vor 1945 einen institutionellen und ideellen Rahmen schuf, der den späteren Aufbau der Europäischen Gemeinschaften mindestens ebenso sehr beeinflusste wie die Wahrnehmung nationaler Interessen unter den Bedingungen der Nachkriegszeit. Für die Autoren trug dieser Herkunftsweg auch dazu bei, dass die Regeln Europas nicht transparent in gewählten Parlamenten und öffentlichen Aushandlungsprozessen geschaffen wurden, sondern (bis heute) in geschlossenen Komitees und Kongressräumen. Die Übertragung des technokratischen Internationalismus auf die Politik förderte demnach nicht nur die Entstehung, sondern bedingte auch die spezifische institutionelle und demokratische Gestalt der Europäischen Union der Gegenwart in charakteristischer Weise.

Das in dem Band hervorgehobene Phänomen der von nichtstaatlichen Akteuren betriebenen internationalen Vereinbarungen lässt sich in Verbindung sehen zu den von Laurence Badel als korporative Außenpolitik untersuchten Verhandlungen wirtschaftlicher Interessenvertreter und zu der von Pierre Rosanvallon beschriebenen Delegation öffentlicher Funktionen an quasistaatliche Stellen im vernetzten Staat. In dem Maße, in dem mit der Ausweitung staatlicher Handlungsbereiche der Bedarf an Expertise auf neuen Politikfeldern wuchs, griffen besonders die Außen- und Wirtschaftsministerien seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend auf private Akteure zurück3. Zugleich wird durch die von Badel und Rosanvallon in den Vordergrund gestellte Nähe zum Staat eine analytische Schwäche des Bands von Kaiser und Schot deutlich: Ihre Darstellung liefert eine Vielzahl von interessanten Beispielen für internationale Kooperationen, es bleibt jedoch insgesamt unklar, wie diese ihren Vereinbarungen Legitimität verleihen konnten, und auf welche Weise sie nach 1945 in öffentliche Institutionen überführt wurden.

So bleiben sowohl die Gründe für das ausführlich dargestellte Scheitern einer Einigung der europäischen Eisenbahnorganisationen in der Zwischenkriegszeit unbeleuchtet wie auch die Quellen der anerkannten Autorität der Union internationale des chemins de fer nach dem Zweiten Weltkrieg. Der hergestellte Bezug zwischen einer länger zurückreichenden Tradition eines nichtstaatlichen Internationalismus und der europäischen Integration nach 1945 bietet zwar eine vielversprechende These; welche Beziehungsmechanismen zwischen Staat, infrastrukturellen Problemen, Wirtschaftsabsprachen und Experten jedoch aus einer – in Teilen wohl auch losen – Kontinuität eine kausale Verbindung machten, bleibt in dem Buch weitgehend offen.

Mit diesem Punkt ist eine zweite Frage verbunden, die sich auf die in den Vordergrund gestellte Figur des Experten richtet. Kaiser und Schot behandeln die Beteiligten an internationalen Vereinbarungen in den Bereichen Eisenbahn und Stahlindustrie als eine mehr oder weniger kohärente Gruppe von Akteuren, die mit den Themen Europa, Rationalismus, Förderung des gesellschaftlichen Wohlstands (u. a.) einen gemeinsamen Diskurs und gemeinsame Handlungsziele entwickelt habe. Es scheint jedoch fraglich, wie aus der einfachen Selbstverständigung über technische Fragen ein so hohes Maß an kollektiver Identität und gemeinsamen Zielvorstellungen entstanden sein soll, dass zugunsten des Expertenbegriffs auf eine genauere Differenzierung der Beteiligten verzichtet werden kann. Sollte man nicht davon ausgehen, dass die Differenzen zwischen einzelnen Organisationen über verkehrstechnische Probleme auch auf unterschiedliche Interessenlagen der Mitglieder zurückzuführen sind? Wie Kaiser und Schot ausführlich erklären, stimmte der Veteran des technokratischen Internationalismus Jean Monnet keineswegs mit Vertretern der westeuropäischen Stahlindustrie überein und musste sich in seinen Versuchen einer Neuordnung des europäischen Stahlmarkts schließlich den privatwirtschaftlichen Interessen in weiten Teilen beugen. Auch wenn man dabei die Unternehmervertreter als Teil der europäischen Expertenkultur versteht, scheint doch offensichtlich, dass zumindest in diesem Fall die gemeinsame Herkunft aus der Tradition des technokratischen Internationalismus nicht vor prinzipiell unterschiedlichen Europavorstellungen schützen konnte. Die Zusammenfassung der involvierten Akteure unter dem Begriff »Experte« verdeckt diese Differenzen tendenziell.

Trotz dieser Überlegungen ist zu betonen, dass der Band die Diskussionen um die Geschichte der Technokratie und der europäischen Integration in produktiver Form bereichert. Er stellt seine Argumente an einem breiten Materialkorpus vor und erfasst eine Fülle an bekannten und vielen nicht bekannten Figuren und Organisationen in einem neuen Blickwinkel. Die Autoren verknüpfen in der Regel getrennt behandelte Themenkomplexe in innovativer Form und bieten damit eine alternative Perspektive zu bestehenden Deutungsmustern, mit der sich die zukünftige Forschung auseinandersetzen muss.

1 Chevalier zitiert nach: Jérôme Debrune, Le Système de la Méditerranée de Michel Chevalier, in: Confluences Méditerranée 2001/1, Nr. 36, S. 187–194, hier S. 193.
2 Alan Milward, The Reconstruction of Western Europe 1945–51, London, New York 1984; ders., The European Rescue of the Nation-State, London, New York 22000.
3 Laurence Badel, Diplomatie et grands contrats. L’État français et les marchés extérieurs au XXe siècle, Paris 2010; Pierre Rosanvallon, Le modèle politique français. La société civile contre le jacobinisme de 1789 à nos jours, Paris 2004.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Philipp Müller, Rezension von/compte rendu de: Wolfram Kaiser, Johan Schot, Writing the Rules for Europe. Experts, Cartels, and International Organizations, Basingstoke, Hampshire (Palgrave Macmillan) 2014, XX–396 p., num. b/w ill. (Making Europe: Technology and Transformations, 1850–2000), ISBN 978-0-230-30807-7, USD 100,00., in: Francia-Recensio 2018/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45585