»The Birth of New Justice« – so könnte der Titel eines groß angelegten Historiengemäldes lauten, in welchem der Maler Mark Lewis mit feinen Pinselstrichen die Entwicklungslinien der weltweiten Bemühungen um Recht und Frieden im 20. Jahrhundert nachzeichnet und der Geschichte neue Farbe verleiht. Einem Wehenschreiber gleich hält der amerikanische Historiker die von 1919 bis 1950 währende und in der Tat schwere Geburt eines janusköpfigen Zwitterwesens fest, der »New Justice«, deren Mutter Justitia sich nur schwerlich der Unzahl an Politikern, Friedensaktivisten und Juristen erwehren kann, die Anspruch auf die Vaterschaft erheben.

In acht Kapiteln nimmt Lewis auf 346 Seiten die Entwicklung des internationalen Strafrechts im 20. Jahrhundert in den Blick. Hierbei ist der Erste Weltkrieg seiner Ansicht nach der entscheidende Wendepunkt. Durch die schiere Dimension der Verwüstungen und des Leids, die in ihrem Ausmaß bis dahin unbekannt waren, stellte der erste industrielle Krieg die internationale Staatenordnung vor ungekannte Herausforderungen. Wurden bis 1918 alle Kriege und Konflikte beigelegt, ohne dass es nachfolgende Prozesse zu etwaigen Kriegsverbrechen und Völkerrechtsverletzungen gegeben hätte, so wurden 1919 während der Pariser Friedenskonferenzen erstmalig gänzlich neue Konzepte des rechtlichen Umgangs mit Kriegen und ihren Folgen diskutiert. An der in Paris angestoßenen Debatte, die weit über den Ersten Weltkrieg hinaus bis in die 1950er Jahre geführt und stark vom Zweiten Weltkrieg und seinen Gräueln beeinflusst wurde, waren zahllose Akteure beteiligt.

Mark Lewis widmet sich den wichtigsten Etappen und Zäsuren dieser Jahrzehnte währenden Diskussion. Er beleuchtet überdies ihre wichtigsten Protagonisten auf Grundlage bereits veröffentlichter sowie bislang unzugänglicher Archivquellen des Völkerbunds, der Vereinten Nationen, des Internationalen Roten Kreuzes und des World Jewish Congress sowie zahlreicher Nachlass-Dokumente von Juristen und Quellenbeständen juristischer Verbände.

»Why trials?« Diese in der bislang einschlägigen Literatur gestellte Frage ist Lewis viel zu banal, die Perspektive viel zu eng. Der amerikanische Historiker hebt im Gegensatz die Vielfalt der Ansätze internationaler Friedensaktivisten und Rechtswissenschaftler hervor, die die Regulierung einer ganzen Bandbreite von Vergehen und Straftaten zum Ziel hatten. Diese reichen von der Verletzung internationaler Abkommen über internationalen Terrorismus bis zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gehen weit über das klassische Verständnis des Kriegsverbrechens hinaus. Zudem thematisiert Lewis die Komplexität der von Völkerrechtlern geforderten internationalen Gerichtsbarkeit und beleuchtet die politischen, humanitären, moralischen und nationalistischen Gerechtigkeitskonzepte ihrer Verfechter. Die eigentlichen Leitfragen des Buchs kreisen um die Tatsache, dass der Wunsch nach rechtlicher Verfolgung und Bestrafung mit solch einer kaum überschaubaren Vielzahl an Straftatbeständen verknüpft wurde. Lewis interessieren die historischen Verbindungslinien und Zusammenhänge zwischen der Strafforderung und der Lobbyarbeit für ihre Durchsetzung.

Seine Hauptthese: Aus der humanitär-juristischen Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg ging ein Strauß gänzlich neuer Rechtsvorstellungen hervor, die er als »New Justice« bezeichnet. Doch was ist darunter zu verstehen? Weit mehr als nur die Forderung nach Prozessen, wenn man dem Autor folgt. Das Konzept der »Neuen Gerechtigkeit« stellte mit seinen Forderungen die bisherige Rechtswelt auf den Kopf. Erstmals wurde nun die Möglichkeit eingefordert, auch Individuen (Staatsbedienstete, Soldaten, gar Staatsoberhäupter) für die Verletzung internationalen Rechts zur Rechenschaft zu ziehen – und dies vor internationalen, überstaatlichen Tribunalen. Dabei waren jedoch, so Lewis, die Vorstellungen der »New Justice« immer auch dem Zeitgeist und der konkreten weltpolitischen Situation unterworfen und befanden sich zwischen beiden Kriegen in kontinuierlichem Wandel.

Die Schwerpunkte von Lewis’ Betrachtungen lassen sich zeitlich in drei große Abschnitte gliedern: die Ereignisse der Pariser Friedenskonferenz, die Entwicklungen der Zwischenkriegszeit und die juristische Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs. Der Abschnitt zur Pariser Friedenskonferenz enthält eine sehr detaillierte Analyse der juristischen Auseinandersetzungen um die Kriegsfolgen-Frage. Lewis führt den Leser in die wichtigsten Punkte der Debatte ein: Gab es eine Kriegsschuld? Sollte ein Angriffskrieg strafbar sein? Wer musste zur Rechenschaft gezogen werden? Auf welcher juristischen Grundlage konnte man einen Prozess organisieren? Wie wollte man mit dem Retroaktivitätsverbot umgehen? Zudem gibt er einen Überblick über die Akteure, wobei das Hauptaugenmerk auf Juristen wie Édouard Descamps und Vespasian Pella bzw. Lobbygruppen und Verbänden wie dem Internationalen Roten Kreuz, der International Law Association oder der Association internationale de droit pénal liegt.

Lewis streicht an dieser Stelle die zahlreichen persönlichen und ideologischen Ambivalenzen der Protagonisten und ihrer Gerechtigkeitsideale heraus. So war der Rumäne Pella antikommunistisch und NS-freundlich eingestellt und verharmloste die Beteiligung der NS-besetzten osteuropäischen Staaten am Holocaust, setzte sich nach 1945 aber vehement für die Völkermord-Konvention ein. Hauptziel der Konferenz von 1919 sei es weniger gewesen, im Nachgang des Kriegs Gerechtigkeit durch Aufarbeitung zu erstreben, als militärische Konflikte in Zukunft durch eine bessere Rechtslage zu verhindern.

Im Zweiten Teil der Arbeit thematisiert der amerikanische Historiker die praktischen Umsetzungsversuche der »New Justice«, also die Schaffung neuer Rechtsnormen und den Versuch ihrer Verankerung in den nationalen Strafrechtskodifikationen, die Gründung des Völkerbunds und die Ausarbeitung des Völkerrechts. In diesem Zusammenhang erörtert er den fortwährenden Konflikt zwischen nationalen Interessen der Staaten und dem überstaatlichen, souveränitätsbeschränkenden Interesse des Völkerbunds und des internationalen Strafrechts. In Zeiten des aufkommenden Kommunismus erhielt die Diskussion eine zusätzliche, politisch stark aufgeladene Komponente, die sich insbesondere in der Frage der Verfolgung des internationalen (kommunistischen) Terrorismus niederschlug.

Im letzten Teil befasst sich der Autor mit der Ahndung der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, wobei hier das Hauptinteresse auf den Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 sowie ihren Hauptverfechtern wie Raphael Lemkin liegt. Insbesondere die Lobbyarbeit des World Jewish Congress und des Institute of Jewish Affairs sowie der juristische Perspektivwechsel auf eine opferzentrierte Rechtsetzung kommen hier zur Sprache. Gleiches gilt für die wechselnde Haltung des Internationalen Roten Kreuzes gegenüber den Kriegsverbrecherprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg, das sich oftmals mehr auf die Seite des Täterschutzes stellte als auf die der juristischen Verfolgung.

Abschließend betrachtet liegt Lewis’ Fokus auf den Entwicklungen in Europa und der westlichen Welt, wobei er die Diskussionen und Entwicklungen in anderen Regionen hinsichtlich der Frage von Krieg und Verbrechen (z. B. gegenüber dem Osmanischen Reich oder Japan) außer Acht lässt. Dennoch nimmt er eine neue Perspektive auf die Entwicklung des Völkerstrafrechts ein. Dem Autor gelingt es, die Komplexität und Gegensätzlichkeit der Positionen darzulegen und die in Teilen janushafte Zwiespältigkeit von Interessenlagen und Gerechtigkeitsvorstellungen aufzudecken.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Philipp Glahé, Rezension von/compte rendu de: Mark Lewis, The Birth of New Justice. The Internationalization of Crime and Punishment, 1919–1950, Oxford (Oxford University Press) 2016, 346 p., ISBN 978-0-19-878325-1, EUR 32,50., in: Francia-Recensio 2018/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45587