Die Rolle von Spielen, ihre identitätsstiftende Wirkung, ihre Performanz sowie die Rolle der Spielenden und des Publikums sind seit einiger Zeit in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen Thema geworden. Insbesondere im angelsächsischen Bereich hat sich die Auseinandersetzung mit Spielen als anerkanntes Forschungsfeld etabliert. Die elf qualitativen Studien des vorliegenden Sammelbands knüpfen an diesen Trend an. Als Spiel werden dabei dezidiert nicht nur strukturierte, institutionalisierte Tätigkeiten beschrieben. Die Beiträge der größtenteils US-amerikanischen Forscherinnen und Forscher lassen sich dem Bereich der Theater- und Popkulturforschung zuschreiben, wobei sie vor allem in der Tradition einer kritischen Ethnografie stehen. Die Positionierung und die Präsenz der Autorinnen und Autoren im Untersuchungsdesign wird jeweils kritisch herausgestellt und hinterfragt.
Die Herausgeber heben hervor, dass es keinen allgemein akzeptierten Konsens zum Spiel gibt (S. 2); die vorgestellten theoretischen Ansätze (z. B. Schechner, Turner, Huizinga, Newman/Newman, Vygotsky, Brown, Rogers/Evans, Nicholson, Caillois, Johnson, Bailey, Henricks, Parlett) werden nicht hierarchisiert. Die von den Herausgebern vorgeschlagene Definition von Spiel ähnelt dann aber doch frappierend denjenigen von Johan Huizinga und Roger Caillois, denen folgende Charakteristika gemein sind: Ortsgebundenheit, Regeln/Protokoll, Rollenübernahme durch Teilnehmende, freiwillige Teilnahme, Freude/Genusserlebnis (S. 3–4). In ihrer Einleitung fächern die Herausgeber verschiedene mögliche Verhältnisse zwischen Spiel und realem Leben auf: das Spiel als alternative Erfahrung, das Spiel als Imitation des realen Lebens, die Konstituierung des realen Lebens durch das Spiel (S. 4).
Zwar werden auch hier, wie der Untertitel verrät, »institutions [that] structure ludic spaces« betrachtet, der institutionelle Rahmen ist aber sehr weit gefasst. Neben höchst kodifizierten kollaborativen Rollenspielen (LARP = Live Action Role Playing Games, WoW = World of Warcraft) treten beispielsweise ritualisierte temporäre Transgressionen (bondage/dominance, submission) und sozial akzeptierte Kulturpraktiken zur Sublimierung rigider Normen (Gesellschaftstänze bei den Mormonen). Fragen wirft allerdings der Umstand auf, dass auch Freizeitaktivitäten (Abenteuerurlaub, Shopping) von den Autoren mit einem institutionellen Zugriff behandelt werden. Derartige Tätigkeiten erfolgen zwar zweifelsohne im Rahmen einer bestimmten organisatorischen Struktur, unter dem Begriff der Institution lassen sie sich gleichwohl nur schwerlich fassen.
Wichtiger für die in diesem Sammelband vereinten Fallstudien ist jedoch die Frage nach den Auswirkungen der Spiele auf die jeweiligen Identitäten. Durch Fantasie, sozialen Wechsel oder die Übernahme von Rollen können sich Spiele auf die reale Lebenswelt auswirken. Zwar erwähnen die Autorinnen und Autoren die Arbeiten von Erika Fischer-Lichte über die Theatralität der Performanz nicht explizit, und sie führen einige andere theoretische Konzepte der kulturwissenschaftlichen Spieltheorie mit Ausnahme von Huizinga und Caillois immer wieder ins Feld, ohne sie zu analysieren. Gleichwohl steht in allen Artikeln die Frage im Vordergrund, wie Spielende ihre Identität im Laufe des temporären und freiwilligen Spielprozesses vor allem im Spiegel eines Publikums ändern.
Um dem Sammelband mit seinen heterogenen Fallbeispielen gerecht zu werden, haben sich die Rezensentinnen dazu entschieden, die Publikation nach Themenschwerpunkten zu besprechen, die sei selbst herauskristallisiert haben.
Viele der im Sammelband behandelten Spiele finden in definierten Zeit- und Ortsrahmen statt, die theoretisch temporäre Normabweichung oder gar ihre Transgression erlauben: In Artikeln zu Videospielen wie WoW (Kimi Johnson) oder LARP-Rollenspielen (Dani Schnyder-Young) wird deutlich, dass hier zwar Individuen miteinander in Konkurrenz oder in Verbindung gesetzt werden, diese dabei jedoch strikten Vorgaben folgen.
Johnson hinterfragt bei der regelkonformen Gestaltung des fiktiven Charakters für ihre Immersion mit einer Gruppe von LARP-Playern und der ersten Integration in eine fiktive, aber real durchgeführte Spielszene die Genderkonformität ebendieser. Denn obwohl allen (männlichen) Mitspielern (Absolventen eines liberalen amerikanischen Colleges) die Genderstrukturen der Gesellschaft bewusst waren, stellt sie fest, dass die Fixierung auf körperliche Stärke und kämpferischen Heroismus in einem auf physische Präsenz und Aggression gepolten Narrativ einige Mitspielende (wie »unsportliche« Männer oder physisch schwächere Frauen) ausschließt. Diese werden stattdessen beispielsweise als Figuren, deren Hauptqualität nicht auf Körperstärke beruht (beispielsweise als »Heiler«) wieder in das Spielnarrativ integriert. Einerseits wird so einer »alternativen Maskulinität« eine beachtliche Rolle zugeschrieben, andererseits scheint zum Beispiel die »heroische Selbstaufgabe« (und damit das Ende der Figur) in Kampfsituationen von weiblichen Charakteren übernommen zu werden, womit das Rollenspiel trotz erhöhter Wachsamkeit der Teilnehmenden althergebrachte Genderrollen und Genderzuschreibungen tradiert.
Eine Möglichkeit, restriktive Genderstereotype und gesellschaftliche Konventionen auszuloten und positiv umzuwandeln, untersucht Megan Sanborn Jones in ihrem Beitrag zum Tanz in der mormonischen Gesellschaft. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass Mitglieder dieser Religionsgemeinschaft überdurchschnittlich erfolgreich in populären TV-Tanzsendungen vertreten sind, und das, obwohl die mormonische Theologie ein eher negatives Körperbild vertritt. Erklärt wird dies damit, dass der Tanz ein gesellschaftlich akzeptiertes, ja geradezu Keuschheit symbolisierendes Spiel mit religiösen und gesellschaftlichen Normen erlaubt. (Gesellschafts-)Tanz von Menschen jeden Alters ermöglicht einen spielerischen Umgang mit Ver- und Geboten. Als Vehikel für dieses dichte restriktive Normennetz gehört er gleichzeitig zu den populärsten und emblematischsten Beschäftigungen bei Gemeinschaftsereignissen.
Doch auch in liberaleren Gesellschaften geraten einige Spiele an den Rand der vom »Mainstream« akzeptierten Regeln. BDSM mit seinem temporären, freiwilligen Charakter, dem rollenbasierten und stark regulierten Sessionverlauf und der Suche nach Sinneslust der Teilnehmenden wird als eine Spielart identifiziert, die gesellschaftliche Normen von Vergnügen, Dominieren und Unterwerfung körperlicher und mentaler Art in einer fiktiven, aber real durchgeführten Situation subvertiert (Danielle Szlawieniec-Haw).
Körperlichkeit wird auch in anderen Beiträgen thematisiert. So wie Caillois ilinx (Rausch) als eine der vier Kategorien des Spiels interpretiert hat, steht auch das exzessive Essen im Mittelpunkt von Themenabenden (Drew Chappell), seien sie reenactment-Ereignisse wie mittelalterliche Bankette oder zeitgenössische Hochzeiten. Die »Essen-bis-zum-Umfallen«-Logik, die die Zuschauenden dieser Themenabende zwar scheinbar an den Rand des Spiels, aber über den »Partycharakter« wieder in dessen Mittelpunkt setzt, ist Teil des ludischen Erlebnisses. So werden auch gleichzeitig neue Standards für die nächsten Exzesse und Reizüberflutungen aller Art gesetzt.
Im letztgenannten Beispiel erschöpft sich die Partizipation der Zuschauenden vor allem im aktiven Konsumieren. Andere Artikel gehen der Frage nach, inwiefern Teilnehmende durch ihre kreative Partizipation im Spiel selber die Grenzen des Spiels ausweiten oder dieses gar erst möglich machen. Kostümierung ist dabei eine Art und Weise, wortwörtlich in eine neue Rolle zu schlüpfen, beispielsweise in ein Cosplay-Batman-Kostüm, um sich »einmal« als Superheld eines fiktiven Universums zu inszenieren (Kane Anderson). Das Kostüm kann aber auch eine soziale Möglichkeit sein, Aufmerksamkeit im Rahmen des Spiels auf sich zu lenken, wie im Fall der Teilnehmenden eines Marathonlaufs, die auf der 42 km langen »Bühne« und vor den Zuschauenden ein möglichst ausgefallenes Kostüm tragen. Dieses erschwert zwar das erfolgreiche Absolvieren des Parcours, garantiert aber gleichzeitig eine erhöhte Aufmerksamkeit (Terry Dean).
Einige dieser Beiträge zu Cosplay werfen durchaus Fragen an der Grenze zur Psychologie und kollektiven Psychosen auf, ebenso der Artikel zu sprachlichem »Britpicking« (Erin Horáková). Hier geht es darum, inwiefern die kreative Auseinandersetzung mit Serien und das weit verbreitete Phänomen des Schreibens von Fanfiction als Performanz von »Britishness« interpretiert werden können. Thematisiert wird das Phänomen kultureller Spannungen. Im Zentrum stehen Fälle, in denen US-Amerikaner und Briten über gemeinsame populäre Serien schreiben: Nuancen wie die Orthografiewahl zwischen amerikanischem und britischem Englisch, aber auch die unterschiedliche Gender- und Kultur-Interpretation der Charaktere innerhalb der Communities und Bloggemeinschaften lassen Unterschiede erkennen. Fanfiction mag eine kreative und spielerische Auseinandersetzung mit vorgegebenem Material sein, die Einsätze jedoch spiegeln wiederum die strukturellen Vorgaben sprachlicher und letztendlich nationaler Vorbilder wider.
Andere Artikel thematisieren den jeweiligen situativen Kontext und die dazugehörige Selbstinszenierung (auch ohne Kostümierung) als gesellschaftliche Performanz. Die beiden folgenden Beispiele haben zwar wenig mit einer »Institution« zu tun, folgen aber einer Logik, in der Narrative des Selbst durch den situativen Rahmen strukturierter und organisierter Freizeitbeschäftigung geprägt werden. Ein Beitrag analysiert, wie die Plaza Indonesia, die modernste und komplett nach westlichem Vorbild inspirierte Shoppingwelt Indonesiens, eine ludische Komponente bei den Besucherinnen und Besuchern auslöst, wobei diese selber zu den Inszenierenden werden und sich zwischen Modernität und Tradition präsentieren und konstituieren können (Jennifer Goodlander). Die Shoppingmall wird zur Bühne, auf der eine vermeintlich banale Freizeitbeschäftigung eine Selbstinszenierung ermöglicht, ja gar erforderlich macht.
Eine ähnliche Beobachtung dieser (unfreiwilligen) Selbst- und Fremdzuschreibung steht auch im Mittelpunkt des Beitrags über das Ferienerlebnis des organisierten Tauchens mit Haifischen (Michael Schwartz). Die Inszenierung ist medial- und fremdbestimmt. Denn begleitet wird sie durch den Videografen der Eventorganisation, der in Rekordzeit einen heroisierenden Filmmitschnitt des Tauchvorgangs editiert. Dieser Film, der die Tauchenden in ein vorgegebenes Narrativ (Helden! Taucher! Haie! Lebensgefahr!) einbindet und in dem Abweichungen nur als kontrastierendes »comic relief« Platz haben, dient den Tauchenden sowohl als Souvenir als auch als Möglichkeit, sich im Nachhinein bei Familie und Freunden als Abenteurer der Meere »aufzuspielen«.
Die Vielschichtigkeit der Beiträge verdeutlicht die zahlreichen möglichen Assoziationen und Reflexionen rund um den Spielbegriff im weitesten Sinn sowie die Bedingungen, die an diesen geknüpft sind. Im Zentrum stehen vor allem »geregelte« Rahmen, die in diesem Sammelband weit gefasst sind und die thematische Bandbreite der Forschungsprojekte repräsentieren. Der jeweilige situative Kontext definiert die Rolle der Teilnehmenden: Durch die Kamera werden Touristen zu Performenden, der mittelalterliche Kontext verführt zu einem mittelalterlichen Essverhalten, die Shoppingmall wird zur Bühne der inszenierten Modernität, das Marathonpublikum ist Grund zur Verkleidung von Stunt Runnern etc. Die in den Artikeln behandelten Beispiele verdeutlichen den Einfluss der Umgebung und ihrer vorgegebenen gesellschaftlichen Normen auf das Verhalten der Individuen. Umgekehrt passen sich die Individuen aber auch dem jeweiligen Kontext und seinen Bedingungen an und reizen die Grenzen des Spiels aus. Ob es am Ende eine Gewinnerin oder einen Gewinner des Spiels gibt, ist nebensächlich, da ohnehin oftmals die Umgebung oder das narrative Skript des Kontextes den Sieg vorbestimmt.
Der Übergang vom Nichtspiel zum Spiel kann fließend sein. Nicht nur durch den Eintritt in einen spielerischen Kontext nehmen wir am Spiel teil. Auch kann jemand anderes durch eine Performanz bestimmen, wann eine Situation zum Spiel wird. Kontext, Performanz, Spiel – die Vielfalt der möglichen Konstellationen und Situationen ist immens und verdeutlicht die Bedeutung der ludischen Perspektive, auch für Forschende anderer Disziplinen. Sie ermöglicht etwa das Hinterfragen von gesellschaftlichen Konventionen, von Akzeptanz in der gegenseitigen Wahrnehmung, der von einer Institution ausgehenden Macht sowie die Bereitschaft zur Rollenübernahme, usw. Am Ende ist das Spiel nicht nur ein Spiel, sondern geht darüber hinaus. Der Sammelband ist nicht nur eine Aneinanderreihung von Beispielen, sondern zeigt verschiedene Facetten eines schillernden Begriffs auf.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Lisa Bolz/Vanina Kopp: Matt Omasta, Drew Chappell (ed.), Play, Performance, and Identity. How Institutions Structure Ludic Spaces, London, New York, 180 p., 10 fig. (Routledge) 2015 (Routledge Advances in Theatre and Performance Studies, 39), ISBN 978-1-1380-1677-4, EUR 99,10., in: Francia-Recensio 2018/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45589