Bénédicte Abraham legt mit diesem Band eine faszinierende Studie zur Karriere der Begriffe »Kraft« und »Energie« im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts vor. In drei Teilen, die wiederum in vier, fünf und drei Kapitel zerfallen, werden nacheinander die semantische und lexikalische Entwicklung, die Bedeutung in und ausgehend von den Wissenschaften und schließlich die literarische Verwendung erörtert.
Der erste Teil »Réflexions préliminaires sur les mots ›Kraft‹ et ›Energie‹ spannt einen Bogen von den aristotelischen Konzepten »entelecheia«, »energeia« und »dynamis« zu »Die Leiden des jungen Werther«, in denen der Kraftbegriff als Ausdruck überlegener Individualität und Subjektivität, kurz, als Geniebegriff gedeutet wird. Die Autorin folgt in diesem Teil sowohl signifikanten historischen Stationen in den Werken von Leibniz, Newton und Euler als auch der Präsenz der Wörter in den Nachschlagewerken des 18. und 19. Jahrhunderts, wobei sie feststellt, dass »Kraft« und »Energie« nach einer Phase des nahezu inflationären Gebrauchs in den Jahrzehnten bis 1800 bereits ab den achtzehnhundertdreißiger Jahren wieder an Relevanz verlieren (S. 42).
Das folgende Kapitel widmet sich der semantischen und lexikalischen Expansion von »Kraft« und »Energie« nach 1750 und betrachtet hierfür ihr Auftreten in bildlicher Sprache. In diesem Zusammenhang beginnt auch deutlich zu werden, dass das Untersuchungsfeld der Studie inhaltlich gerechtfertigt ist – nicht nur etwa aufgrund fachlicher Zuständigkeit der Germanistin. Im Bild der Eiche etwa finden Vorstellungen von Kraft eine Form, welche für die Deutschen im Zuge der Herausbildung nationaler Identität topisch geworden ist (S. 46).
Der Verbindung von der Vorliebe für die genannten Begriffe und der Konstruktion nationaler Identität geht Bénédicte Abraham im Weiteren auch historisch nach. Dabei stößt sie zunächst auf die Bedeutung der Sprache des Pietismus, welche sich durch einen hohen Grad an Dynamik auszeichnet, indem sie versucht, den gelebten Glauben und die Verbindung der Seele mit Gott zu artikulieren (S. 60). Die hierbei verbreiteten Formen werden dann in der Empfindsamkeit, im Sturm und Drang und schließlich in der Romantik säkularisiert.
Im Bezug zur Nation kommen zunächst Beispiele in den Blick, in denen die politisch problematische Situation energetisch reformuliert wird. Mme de Staël beispielsweise sieht in der politischen Zersplitterung der deutschen Kleinstaaten den Grund für ein gesteigertes philosophisches Interesse. Der Wegfall von Möglichkeiten der politischen Karriere befördert demnach eine Tendenz zur intellektuellen Vertiefung, die aber – im Gegensatz zur politischen Bewegung – Sache genialer Individuen ist. Die fehlende politische Kraft wird in »De l’ Allemagne« als Mangel an Energie bezeichnet (S. 67), ein Kritikpunkt, der sich ähnlich bereits in den Schriften Friedrichs II. findet.
Der zweite Teil »Le ›désir‹ de science des Allemands autour de 1800: la dynamisation du savoir« ist der wissenschaftlichen Entwicklung der Epoche gewidmet und fokussiert den Übergang von statischen und mechanistischen zu dynamischen Modellen bzw. von enzyklopädisch-kumulativem Wissensverständnis zum Verständnis von Funktionen und Prozessen. So wird anhand der Arbeiten des gelehrten Naturforschers Erxleben der Übergang von einem Verständnis der physikalischen Kraft als Eigenschaft der Materie zu einem Verständnis im Sinne eines Grundes der Bewegung nachvollzogen (S. 127). Blumenbach spricht sich gegen die Präformationslehre für einen Bildungstrieb, also für die dynamischere Idee aus. Hier wird ein Vitalismus sichtbar, der sich auch in anderen Bereichen – etwa in Herders Überlegungen zu Sprache (S. 143f.) und zur Bildung (S. 148) sowie in der Historiografie der Zeit findet. Hinsichtlich des zuletzt genannten Bereichs wird beispielsweise auf die Arbeit Schlözers verwiesen, welcher nachdrücklich die Aufgabe einer lediglich kompilatorischen Geschichtsschreibung zu Gunsten einer solchen fordert, die Verkettungen von Ursache und Wirkung darstellt (S. 177).
Allgemein zeigt der zweite Teil auf, dass auch die Entwicklungen in den Wissenschaften einen Bezug zur Herausbildung nationaler Identität bzw. zum Selbstverständnis der Deutschen aufweist, eben indem man sich, unabhängig von der politischen Einheit, als relevanter Protagonist des Geisteslebens begreift.
Der dritte Teil, »L’idée d’énergie en littérature« zeigt dagegen die ästhetisch-literarische Seite dieses Programms. Hier findet sich beispielsweise bei Herder die Vorstellung einer »Stärke der deutschen Sprache«, die mit einer Apologie der Volksdichtung einhergeht, der ebenfalls eine »wunderthätige Kraft« zugeschrieben wird. Die Bestimmung der deutschen Literatur erfolgt hier nicht zuletzt in aktiver Abgrenzung von französischen Vorbildern (S. 193).
Am prägnantesten finden die Thematik der Kraft und die der selbstbewusst werdenden Nationalliteratur jedoch im Geniebegriff zusammen. Ab 1750 beginnt er sich herauszubilden und gegen 1770 wird er zum Modewort. Er erfüllt dabei laut der Verfasserin zwei Funktionen, einerseits betont er die Originalität der deutschen Dichter, also deren Unabhängigkeit von ausländischen Vorbildern und andererseits die Überwindung regelpoetischer Ansätze (S. 209). In diesem Zusammenhang werden Autoren wie Sulzer, Lessing, Gerstenberg, Lavater, Herder und Schiller untersucht. Das Kapitel endet mit einer Lektüre des «Faust 1«, welche die genannten Begriffe fokussiert. Die Hauptfigur ist ein »Kraftmensch« oder »Kraftgenie« (S. 228), der sowohl als mächtig (hinsichtlich seiner Meisterschaft in den Wissenschaften) als auch von Kräften beherrscht dargestellt wird. Die Autorin beobachtet hier eine Abwertung des logos zu Gunsten der Handlung; besonders eindringlich verdeutlicht an Fausts Übersetzung des Evangeliums, der die Studie ihren Titel verdankt (S. 231).
»Kraft« erweist sich als zentrales Konzept in der Tragödie, welches die Figurenkonstellationen und die Handlung bestimmt. Der Mensch ist eingespannt in die Dichotomie von Denken und Trieb. Aber eben diesen Widerspruch scheint der Kraftbegriff als Zusammenspiel eines Potentials und seiner Realisierung aufzuheben (S. 238).
Ein entscheidender Grund für die Fruchtbarkeit dieser Arbeit zeigt sich bereits in ihrer Anlage. Sie erlaubt es, dass auf der Ebene sprachlicher Formen eine differenzierte Bezugnahme von Autoren gelingt, die, da die meisten von ihnen stark kanonisiert sind, häufig noch einzeln behandelt werden. Das stark analytische Moment geht aber nicht, wie man vermuten könnte, mit einer Missachtung des spezifisch Literarischen einher. So merkt die Autorin selbst an, dass ihr in der Behandlung des »Werthers«, die sonst durchgehaltene Unterteilung in Unterkapitel nicht gelungen ist; eben weil sich Kraft beim Lesen auch auf die Leserin übertragen lässt und dies in der Unterbrechung verloren gehen kann (S. 97).
Das Zusammenspiel des zeittypischen Sprachgebrauchs in Deutschland und der Funktion für die gleichzeitige Herausbildung des Nationalbewusstseins geht evtl. manchmal zu gut auf. Hier stellt sich die Frage, wie sehr die Prägnanz des Ergebnisses von der Wahl des Beobachtungsfeldes abhängt. Welches Bild ergäbe sich, wenn man es auf den direkten Vergleich mit der französischen und englischen Literatur der Zeit ankommen ließe? Wie sähe das Ergebnis aus, wenn man sich innerhalb des Schrifttums in Deutschland noch stärker auf die Philosophie einließe? Was, wenn man Autoren (Forster, Alexander von Humboldt, Chamisso) einbezöge, welche die Dynamik konkret als Bewegung im Raum umgesetzt haben? Diese Punkte müssen jedoch keine Einwände sein. Sie könnten sich auch als produktive Anschlussfragen zur Weiterarbeit mit dieser wichtigen Untersuchung erweisen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Julian Drews: Bénédicte Abraham, Au commencement était l’action. Les idées de force et d’énergie en Allemagne autour de 1800, Villeneuve-d’Ascq (Presses universitaires du Septentrion) 2016, 261 p. (Dialogues entre cultures), ISBN 978-2-7574-1274-9, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2018/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45703