Das Speyer der Frühen Neuzeit ist ein vernachlässigter Ort. Auch anlässlich der Beisetzung des verstorbenen Altbundeskanzlers Kohl im Sommer 2017 kam vorrangig die Bedeutung des mittelalterlichen Speyer zur Sprache, obgleich die Reichsstadt als Sitz des Reichskammergerichts (1527 bis 1689) und Veranstaltungsort mehrerer Reichstage des 16. Jahrhunderts für das Alte Reich bedeutsam war. Der vorliegende Band thematisiert diesen »Zentralort des Reiches« (S. 11), die Stadt selbst wie ihr regionalpolitisches Umfeld.

Der von Siegrid Westphal zu Beginn vorgeschlagene Analyseansatz – eine Verbindung der Theorie der zentralen Orte (Walter Christaller) mit der Netzwerkanalyse – erscheint auch für andere Städte und Regionen instruktiv. Er ermöglicht es, Veränderungen und »Konjunkturen von Zentralität eines Ortes« (S. 15) zu erfassen. Die Ansiedlung des Reichskammergerichts und die Abhaltung von Reichstagen waren eine Chance für Speyer, den ab 1500 spürbaren wirtschaftlichen und religiösen Bedeutungsverlust zu kompensieren. Während der Einfluss der Reichstage jedoch nur vorübergehend war, brachte das Gericht eine stetige Relevanz und »strukturelle […] Zentralität« (S. 21). Eva Ortlieb, die sich der Stadt als Tagungsort des kaiserlichen Hofrats unter Karl V. widmet, greift diesen Ansatz explizit auf. Der Hofrat zog im Reich mit dem Kaiser mit; nachweisbar wurde Speyer vor allem 1544 und teils 1550 zu seinem Tagungsort. Bei Reichstagen war damit eine weitere Institution in der Stadt, die Angelegenheiten des Reichs verhandelte. Dies habe zu verstärkten Interaktionen geführt und Speyer als Ort des Reiches bekannt gemacht. Auch hier zeige sich der zeitliche Aspekt von Zentralität im Reich.

Im vierten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts sei die Stadt sogar »das Reich« gewesen, postuliert Gabriele Haug-Moritz. Da in diesen Jahren kein Reichstag zusammentrat, habe sich das Reich nur in Speyer »als institutioneller Handlungszusammenhang konkretisiert« (S. 24). Haug-Moritz’ Thema sind die Religionsprozesse am Reichskammergericht in dieser Zeit. Dessen Rechtsprechung sei zunehmend politisch brisant geworden, es habe aber nicht »die innerweltlichen Folgeprobleme der religiösen Pluralisierung rechtlich […] sanktionier[t]« (S. 34). Das Reichskammergericht steht gleichfalls im Zentrum der Untersuchung von Anette Baumann. Es geht um dessen Visitationen und um sein Funktionieren. Während die von Karl V. entsandten Kommissare über teils nicht ausreichend befähigtes, teils korruptes Personal berichteten, habe das Gericht unter Maximilian II. und Rudolf II. zuverlässig gearbeitet. Es wurde nun vom Reichshofrat kontrolliert.

Yves Huybrechts betont die Bedeutung des Speyrer Reichstags von 1570: Er habe angesichts der Krise in den Niederlanden und entgegen der Entwicklung unter Philipp II. zu einer verstärkten Integration des Burgundischen Reichskreises ins Reich geführt.

Der zweite Teil des Bandes zur Reichsstadt Speyer bietet vorrangig Überblicke. Der Band will allerdings nicht zuletzt zur weiteren Beschäftigung mit den Beziehungen zwischen den Ebenen Stadt, Land und Reich anregen und viele Beiträge gehen daher dezidiert auf die Quellenlage und mögliche Forschungsfragen ein. Joachim Kemper stellt Literatur und Quellen zur frühneuzeitlichen Stadtgeschichte vor und bringt Informationen zum Stadtbild und zur Sozialstruktur, beantwortet freilich nicht seine Frage, ob Speyer zwischen der Reformationszeit und 1689 in »Passivität und einer selbstzufriedenen reichsstädtischen Beschränkung« verharrte (S. 88). Martin Armgart fragt, wie (konfliktreich) sich die Beziehungen zwischen den Angehörigen des Reichskammergerichts und den Stadtbürgern gestalteten. Negativ aus Sicht der Bürger musste sein, dass die Kameralen gern in eigener Sache geklagt hätten und ihre Anwesenheit den Immobilienmarkt beeinflusst habe; nicht zuletzt aber hätten sie Geld in die Stadt gebracht. Dem Vorschlag Westphals entsprechend, auch das Selbstverständnis einer Kommune in den Blick zu nehmen, geht es Anja Rasche um bauliche Reste des Reichsgerichts in Speyer, die jedoch im Pfälzischen Erbfolgekrieg weitgehend vernichtet wurden. Sie wertet daher bildliche Quellen des 18. Jahrhunderts aus; einige schöne Abbildungen machen dies greifbar.

Unter der Rubrik »Speyer und die Nachbarn« stehen das Bistum und Hochstift Speyer, das Verhältnis zwischen der Stadt und dem Bischof und das regionalpolitische Kräfteverhältnis am Mittelrhein im Mittelpunkt. Hans Ammerich untersucht die Reformen im Sinne des Trienter Konzils unter Bischof Eberhard von Dienheim, der vor allem beim Klerus ansetzte. In der Seelsorge für die Reichskammergerichtsangehörigen wurden die Jesuiten tätig, gegen die der reichsstädtische Rat freilich vorzugehen versucht habe. Insgesamt habe die Anwesenheit der Reichsinstitutionen in der seit 1540 prinzipiell protestantischen Stadt für die katholische Minderheit einen Schutz dargestellt. Das konfliktreiche Verhältnis zwischen den Bischöfen und der Stadt macht Andreas Deutsch erhellend am Ringen zwischen beiden um den Vollzug hochgerichtlicher Urteile deutlich. Den Bischöfen war ein Rest ihrer ursprünglichen Gerichtsgewalt über die Stadt verblieben: Sie hatten den Scharfrichter zu stellen und nutzten dies politisch. Nicht selten seien die Streitigkeiten vor den Reichsgerichten gelandet.

Alexander Jendorff betrachtet in einem sehr dichten Text das mittelrheinische Umfeld Speyers im konfessionellen Zeitalter und nimmt differenziert die dortigen Akteure und ihr Verhältnis zueinander in den Blick. Um die »altreichische Regionalpolitik« (S. 190) zu erschließen, sei die Reichskreisforschung nicht weiterführend. Die betreffenden Reichsstände seien schließlich verschieden konturierte und verfasste, sich wandelnde, durchaus instabile und von unterschiedlichen dynastischen Zielen bestimmte Herrschaftsgebilde gewesen. Die vielfach überkommenen Konfliktfelder zwischen ihnen hätten sich durch die Reformation zwar verschoben, die Fronten seien indes nicht anhand der konfessionellen Linien verlaufen. Auch diese Akteure nahmen das Reichskammergericht vielfach in Anspruch und nutzten das »Recht als politische Waffe« (S. 225).

Es folgen noch zwei in erster Linie Quellen vorstellende Beiträge. Hans-Helmut Görtz verweist auf das Kammergerichtspersonal in Speyrer Taufbüchern und die darin sichtbar werdenden Netzwerke, Sylvia Kabelitz stellt die Autografen- und Kupferstichsammlung Kestner der Universitätsbibliothek Leipzig vor, die zahlreiche das Reichskammergericht betreffende Dokumente enthält.

Dem Band hätte teilweise ein verstärktes Lektorat gut getan. Das gilt im Hinblick auf fast wörtliche Wiederholungen (S. 152ff., 165f.), ein höchst langsames argumentatives Voranschreiten (S. 129 zum Nutzen, bestimmte Dokumente im Original anzusehen) oder die angebliche Redewendung »›Lauch läßt man nicht sprießen‹« (S. 61). Der Titel selbst macht neugierig, birgt aber zumindest das Risiko, missverstanden zu werden, als habe die Stadt auch eine formelle Hauptstadtfunktion eingenommen. An manchen Stellen ist vorrangig von einer Bestandsaufnahme zu sprechen. Die drei Hauptfacetten sind indes wichtig: Speyer als Ort der Interaktion des Reiches (was manche Konflikte prägte), das Reichskammergericht der Speyrer Zeit sowie die wechselseitigen Einflüsse zwischen beiden. Dazu ist auf jeden Fall auch Baumanns Vorschlag weiterführend, den von einigen Autoren gewählten akteurszentrierten Ansatz intensiver zu verfolgen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Astrid Ackermann, Rezension von/compte rendu de: Anette Baumann, Joachim Kemper (Hg.), Speyer als Hauptstadt des Reiches. Politik und Justiz zwischen Reich und Territorium im 16. und 17. Jahrhundert, Berlin, Boston, MA (De Gruyter) 2017, VIII–249 S., zahlr. Abb. (bibliothek altes Reich, 20), ISBN 978-3-11-049981-0, EUR 59,95., in: Francia-Recensio 2018/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45706