Bibliotheken als Orte gespeicherten Wissens rücken zunehmend in den Fokus verschiedener Disziplinen und werden aus dem Blickwinkel aktueller Forschungsfelder, wie der Wissensgeschichte, der Ideengeschichte, des Kulturtransfers oder der Genderforschung analysiert. Zur Grundlagenarbeit gehört zunächst die Erschließung der Bestände, die selten im Original erhalten sind und indirekt wieder zusammengeführt werden müssen. Bevor verallgemeinernde Thesen formuliert werden können, muss sich dem Forschungsfeld Bibliothek über Fallstudien genähert werden. Wie lohnenswert die Bibliotheksforschung für zahlreiche Disziplinen der Frühneuzeitforschung sein kann, wird exemplarisch durch Wolfgang Adams1 literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bibliothek Michel de Montaignes ersichtlich.

Der Geschichte von Bibliotheken, vom Beginn des Sammelns über die Benutzung bis hin zur Auflösung, widmet sich dieser Band mit dem weit gefassten Titel »Bibliotheken und Leser im Europa der Frühen Neuzeit«. Er umfasst 22 französischsprachige Beiträge verschiedener Disziplinen. Der nach Jahrhunderten strukturierte Sammelband wird ergänzt durch Autoreninformationen, ein Personenregister und ein Abbildungsverzeichnis. Der thematische Einstieg des Bandes wird durch Abstracts erheblich erleichtert.

Gilles Bertrand und Anne Cayuela führen in der Einleitung unter dem Titel »Ordnung und Unordnung der Bibliotheken im europäischen Raum der Frühen Neuzeit« in die Beiträge des Sammelbandes ein. Im Fokus stehen die Beziehungen zwischen Leserschaft und Bibliotheken, die in fünf Phasen unterteilt werden: Während der erste Teil die zeitliche und geographische Dimension aufspannt vor deren Hintergrund Bibliotheken entstehen, stellt der zweite Teil die Erwerbung und den Buchbesitz in den Vordergrund. Der Besitz eines Buches repräsentiert den Wunsch des Eigentümers. Bibliotheken sind somit ein Spiegel des individuellen Geschmacks, die neben Drucken und Handschriften schmückende Elemente wie Karten, Globen und Grafiken enthalten. Der Besitz kann auf das Leben des ursprünglichen Käufers begrenzt sein oder Teil einer Sammlung werden, die über Generationen hinweg geformt und weiterentwickelt wird.

Drittens werden der Gebrauch und die Funktion von Bibliotheken behandelt: Neben einem Treffpunkt und einem Ort zum Arbeiten und Studieren kann eine Bibliothek auch als Instrument der Repräsentation oder Legitimation dienen. Die Funktion, die eine Bibliothek erfüllen soll, ist ausschlaggebend für die Auswahl, die Organisation oder Präsentation der Bücher. Die vierte Phase bildet die Nutzbarmachung der Bibliothek als Arbeitsinstrument, bei der die Klassifikation und Aufstellung wesentliche Werkzeuge sind, die wiederum die Denkweise der Zeit spiegeln. Im Kontext von Zerstörungen und Zerstreuungen von Bibliotheksbeständen kommen die Autoren fünftens auf die Unterschiede von reellen und imaginierten Bibliotheken zu sprechen, wobei imaginierte Bibliotheken sich auf die möglichen Quellen von Autoren und die Praxis des Exzerpierens beziehen.

Die Aufsätze des Sammelbandes sind wiederum zunächst nach Jahrhunderten in zwei Hauptteile und innerhalb dieser thematisch in Kapitel untergliedert. Der Besitz, die Benutzung und die Zirkulation europäischer Bücher in dem Zeitraum von der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts bilden die thematische Klammer der Beiträge im ersten Teil des Bandes.

Das erste Kapitel beleuchtet die politische Seite von Bibliotheken. Barbier betrachtet den gesamteuropäischen Kontext anhand von Schicksalen von Bibliotheken im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges. Pedro Rueda Ramírez untersucht den Aspekt der Buchzirkulation durch Reisende zwischen Spanien und Amerika. Die politische Dimension einer Fürstenbibliothek wird in De Pasquales Beitrag zur Familienbibliothek des Fürsten Charles Emmanuel von Savoyen deutlich.

Die Lektüre und der Gebrauch von Büchern stehen im zweiten Kapitel im Mittelpunkt. Marie-Pierre Laffitte beleuchtet anhand verschiedener Quellen die Funktion und den Gebrauch der Bibliothek Colberts. Anne Beroujon widmet sich der Bibliothek der Familie Pianello de La Valette, der Grundlage für ihre familiäre und adelige Identifikation. Arredondo geht von der Gattung der novelas des siglo de oro aus und weist ihre Rezeption in den wichtigsten spanischen Bibliotheken nach. Die Gründung der Bibliothek des Klosters Santa Maria del Fiume in Dongo bildet den Mittelpunkt von Giancarlo Petrellas Forschung.

Die Konstitution und Dispersion von Bibliotheken stehen im dritten Kapitel im Zentrum. Anhand ihrer Studie über die Bibliothek des Florentiner Humanisten Pietro Vettori (1499–1585) gibt Raphaële Mouren Einblick in ein europäisches Netzwerk eines Humanisten zu Beginn der république des lettres. Mithilfe von zwei Publikationen des 17. Jahrhunderts zum Musæum Septalianum versucht Rozzo die Bibliothek der Familie Settala in Mailand zu rekonstruieren. Im Vergleich der Bibliotheken der Pariser Humanisten Dupuy und De Thou macht Raugei den Einfluss von persönlichen Sammlungsintentionen auf zwei Büchersammlungen mit denselben thematischen Schwerpunkten sichtbar. Andrea Bruschi geht der Frage nach der intendierten Auflösung der 11 000 Bände umfassenden Buchsammlung des Gelehrten Étienne Baluze (1630–1718) nach, der testamentarisch verfügte seine Bücher nach seinem Tod auf einer Auktion zu veräußern.

Der zweite Hauptteil vereint die Beiträge unter dem Aspekt der Wissensverbindungen zwischen Spanien, Deutschland, Frankreich und Italien im 17. und insbesondere im 18. Jahrhundert. Die europäische Zirkulation von Büchern stellt die Thematik des vierten Kapitels. Die Beiträge von Juan Montero und Carlos Alberto González Sánchez sowie Dominique Varry fokussieren sich auf Individuen und ihre Bibliotheken, analysiert vor einem nationalen sowie internationalen Hintergrund. Marina Roggeros Perspektive unterscheidet sich grundlegend von dieser Herangehensweise. Sie verfolgt den Zugang und das Verhältnis der Öffentlichkeit zu Büchern im Falle Italiens.

Im fünften Kapitel wird die Bibliothek als Ort der Konstruktion von literarischen und wissenschaftlichen Imaginationen betrachtet. Montesquieu wird hierbei in zwei Beiträgen thematisiert, in einer allgemeinen Auswertung (Catherine Volphilac-Augers) und im Kontext seiner Reisebücher (Eleonora Barria-Poncet). Christian Del Vento wendet sich der Bibliothek der Schriftsteller zu, die anhand Vittorio Alfieris Büchersammlung und seiner Vita illustriert wird. Die Öffnung der Bibliotheken wird anhand von François de Paule Latapies Besuchen von 56 europäischen Bibliotheken im Beitrag von Gilles Montègre beleuchtet.

Abschließend widmet sich der Sammelband dem Thema des bibliophilen Erbes. Anhand eines Auktionskataloges analysiert Rege die Privat- und Arbeitsbibliothek des in Kassel tätigen Architekten Simon-Louis Du Ry. Der Florentiner Giuseppe Pilli Bencivenni war Autor eines Handschriftenjournals, das zwischen 1748 und 1803 täglich erschien und für Macé als Grundlage dient, die »reale« Bibliothek Bencivennis zu rekonstruieren. Als ideale Bibliothek werden von Alain Henriot und Pierre Voisin die Sammelbände des Adeligen Charles-André d’Allois d’Herculais (1746–1808) vorgestellt, der zeitlebens Extrakte seiner Lektüre verfasste und so eine tragbare Bibliothek erstellte. Gilles Bertrand und Béatrice Kalfoun ordnen die Privatbibliothek des Marquis de Vaulserre (1773–1849) als globale Vision des Wissens in eine von ihm imaginierte Geographie, in der Italien einen zentralen Platz einnimmt.

Insgesamt betrachtet setzt sich der Sammelband trotz des bewussten Ausschlusses Englands einen weitreichenden geografischen sowie zeitlichen Rahmen. Diesem Anspruch begegnet er mit Mikrostudien sowie Beiträgen, die sich über Ländergrenzen und Jahrhunderte erstrecken. Dadurch wird eine multiperspektivische Analyse von Bibliotheken der Frühen Neuzeit möglich.

Der Verfasserin und dem Verfasser der Einleitung gelingt es leider nur partiell die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Bibliotheken und Lesern herauszuarbeiten. Die im Ansatz spannenden Thesen werden selten ausformuliert und mit grundlegender Forschungsliteratur unterfüttert. So dürfte beispielsweise bei dem Vergleich der Bibliothek mit einem lebendigen Körper (»corps vivant«, S. 20) ein Verweis auf William Sherman2, Umberto Eco3 und Alain Dierkens4, die sich mit den vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Bibliotheken und ihren Lesern auseinander setzen, nicht fehlen. Darüber hinaus bezieht sich die Einleitung nur auf eine Auswahl der folgenden Aufsätze und beschränkt sich in diesen Fällen häufig auf punktuelle Verweise.

Die hier versammelten Fallstudien eine wichtige Annäherung an die Beziehung zwischen Bibliotheken und ihrer Leserschaft. Die interdisziplinäre Herangehensweise erlaubt eine Bearbeitung aus verschiedenen Perspektiven und eine Verwendung unterschiedlichster Quellen. Dieser fruchtbare Ansatz zur Erforschung von Bibliotheken in der Frühen Neuzeit macht diesen Sammelband zu einem wichtigen inhaltlichen Beitrag der Bibliotheksforschung.

1 Wolfgang Adam, Bibliotheksforschung als literaturwissenschaftliche Disziplin, in: Stefan Alker, Achim Hölter (Hg.), Literaturwissenschaft und Bibliotheken, Göttingen 2015, S. 67–92.
2 William H. Sherman, A Living Library: The Bibliotheca Mortlacensis Revisited, in: ders.: John Dee. The Politics of Reading and Writing in the English Renaissance, Amherst, MA 1995, S. 29–52.
3 Umberto Eco, Riflessioni sulla bibliofilia, Mailand 2001.
4 Alain Dierkens, Les humanistes et leur bibliothèque: Quelques considérations générales, in: Rudolf De Smet (Hg.), Les humanistes et leur bibliothèque. Actes du colloque international, Bruxelles, 26–28 août 1999, Leuven u. a. 2002, S. 259–267.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Isabelle Bosch, Katharina Gietkowski, Rezension von/compte rendu de: Gilles Bertrand, Anne Cayuela, Christian Del Vento, Raphaële Mouren (dir.), Bibliothèques et lecteurs dans l’Europe moderne (XVII–XVIII siècles), Genève (Librairie Droz) 2016, 532 p. (Bibliothèque des Lumières, 88), ISBN 978-2-600-04703-6, EUR 58,00., in: Francia-Recensio 2018/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45707