Ein wesentliches Instrument zur flächendeckenden Durchsetzung der Reformation waren die vom jeweiligen Landesherrn angeordneten Visitationen. Systematisch wurden die Kirchengemeinden durch Beauftragte der evangelischen Landesfürsten besucht. Bei den oft mehrtägigen Aufenthalten der Visitatoren wurden u. a. die ordnungsgemäße Verkündigung der neuen Lehre, Lebens- und Amtsführung von Pfarrern und anderen kirchlichen Mitarbeitern, die finanzielle Ausstattung der Kirche sowie das Gemeindeleben überprüft. Die Ergebnisse wurden in Visitationsprotokollen festgehalten, die damit eine detaillierte Momentaufnahme der wirtschaftlich-sozialen Lage und des Bekenntnisstandes in den Pfarreien zur Zeit des konfessionellen Umbruchs liefern.

Die hier vorgestellte Publikation enthält Beiträge und den Abendvortrag der gemeinsamen Tagung des Projektes »Digitales Archiv der Reformation« und des Lehrstuhles für Kirchengeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena, die unter dem Thema »Reformation vor Ort. Zum Quellenwert von Visitationsprotokollen« 2014 in Jena stattfand.

Insgesamt dreizehn Autoren beschäftigen sich vor allem mit den Protokollen der ersten protestantischen Visitationen in den mitteldeutschen Territorien. Unter unterschiedlichen Gesichtspunkten beurteilen sie den Quellenwert dieser wichtigen Dokumente aus dem 16. Jahrhundert. Die einzelnen Beiträge sind in sich schlüssig, ergänzen sich gegenseitig und fügen sich zu einem gut konzipierten Sammelband zusammen, der den großartigen Informationsgehalt der Visitationsprotokolle an verschiedenen Beispielen anschaulich darlegt. Da im Folgenden nicht auf alle Aufsätze ausführlich eingegangen werden kann, hat der Rezensent eine persönliche Auswahl getroffen, die einige wichtige Aspekte der Auswertung der Visitationsprotokolle besonders hervorheben soll.

Der erste Beitrag, verfasst vom Mitherausgeber Christopher Spehr, stellt Luthers Kirchenverständnis und seine Sicht auf die Visitationen vor. Zunächst sah Luther nicht die Notwendigkeit einer Reglementierung des Gemeindelebens. Er wollte die Gemeinde stärken und ihr die richtige Auslegung der Bibel ermöglichen. Spätestens seitdem die Differenzierung in verschiedene Reformationsansätze zunahm, empfahl auch er situativ-regulative Maßnahmen und plädierte für kirchenordnende Eingriffe der landesherrlichen Obrigkeit.

Christoph Volkmar betrachtet vor allem die Akteure und Interessenlagen der frühen Visitationen und mahnt zu einer quellenkritischen Betrachtung der Visitationsprotokolle. In dem er sich auf die Akteure konzentriert und die Protokolle in den Kontext lokaler Quellen einordnet, schafft er es, vielfältige Konflikte und Interessenlagen offenzulegen. Eine Herangehensweise, die Schule machen sollte.

Vor allem am Beispiel der Visitation in Eisenach 1525 hebt auch Joachim Bauer hervor, wie sich die frühen Visitationen aus dem jeweiligen Kontext ergaben und durchaus nicht immer dieselben Ziele verfolgten, sondern territorial und zeitlich differierende Herrschaftsinstrumente waren. Erst mit der Veröffentlichung des »Unterrichts der Visitatoren« setzte ein Prozess der Normierung von Visitationen ein.

Annette Scherer verdeutlicht, dass Kenntnisse der Organisation, des Ablaufs und der Akteure der Visitationen unerlässlich sind für einen quellenkritischen Umgang mit den Protokollen. Das trifft besonders auf die Protokolle aus der Zeit vor 1527 zu, als mangels einheitlicher Instruktionen der Ermessensspielraum der Visitatoren noch sehr groß war.

Martin Sladeczek erläutert, wie die Dörfer durch zahlreiche Bitten und Beschwerden an die Landesherrschaft wegen schlechter seelsorgerischer Versorgung, großer Baulasten, ungünstiger Einpfarrungen und anderer örtlicher Probleme indirekt, aber spürbar Einfluss auf ein neues Kirchenregiment nahmen. Stefan Michel nimmt sich der bisher kaum beachteten Klostervisitation von 1526 an und sieht darin planvolles Handeln des Kurfürsten, der schon zu einem frühen Zeitpunkt anstrebte, die Klöster in die Reformation einzubeziehen, und deswegen zunächst eine Bestandsaufnahme als notwendig erachtete. Vicky Rothe zeigt anhand der ersten beiden Visitationen im Amt Wittenberg 1528/1529 und 1533/1534 zum einen, welche Probleme in den Dörfern existierten und wie sich reformatorisches Gedankengut durchzusetzen begann. Zum anderen lässt sie erkennen, dass Visitationsprotokolle als Quelle für das tatsächliche Alltagsleben in den Dörfern an ihre Grenzen stoßen. Dazu müssen andere Quellen als Ergänzung herangezogen werden. Das unternimmt Antje Gornig in ihrem Beitrag zur ersten Visitation in Wittenberg, in dem sie unter anderem die Rechnungen des Gemeinen Kastens analysiert, um Visitationsvorgänge zu rekonstruieren, deren Protokolle nicht mehr vorliegen. Neben den zahlreichen Einsichten zur praktischen Umsetzung der Reformation in der Stadt und zur aktiven Rolle des Stadtrates und der Universität ist es besonders die intensive Auswertung der Quellen, die diesen Beitrag - nach Meinung des Rezensenten – zum interessantesten des hier vorgestellten Buches macht.

Friedhelm Gleiß betrachtet die mit der Reformation im Zusammenhang stehenden Umbrüche in der Pfarrerschaft. Dazu nutzt er Visitationsprotokolle von 1528/1529 und 1556, wobei er auch eine Entwicklung in den Anforderungen an die Pfarrer erkennen kann. Die festgehaltenen Ergebnisse aus den Befragungen der Geistlichen und der Gemeinden zeigen, dass man zunächst die Durchsetzung gewisser Mindestanforderungen anstrebte. 1556 dagegen legten die Visitatoren großen Wert darauf, dass den Gemeinden die evangelische Lehre und Frömmigkeit vermittelt werden konnte. Indem die Anforderungen wachsen, nehmen auch die festgehaltenen Informationen zu, was den Quellenwert der Protokolle weiter erhöht.

Daniel Gehrt beleuchtet die bisher wenig beachteten Berichte der Weimarer Spezialvisitation des Jahres 1560. Zunächst skizziert er die Biografie des Bartholomäus Rosinus, der an der Spitze der Superintendentur Weimar stand und diese Visitation veranlasste, um dann die Visitation als Kommunikationsprozess und wechselseitigen Austausch von Informationen zu schildern, der zwischen verschiedenen Ebenen der Kirchhierarchie sowie mit der weltlichen Obrigkeit stattfand. Dass ihre Überlieferung hilft, die Buchbestände der Pfarrer zu erforschen, ist ein besonders interessanter Aspekt dieses Beitrages, der durch eine Beschreibung der Akten und einen Editionsteil ergänzt wird.

Der weitgehend auf mitteldeutsche Territorien gerichtete Blick wird durch die Beiträge von Wolf-Friedrich Schäufele und Christiane Schuchard erweitert, welche Visitationen im hessischen Raum – in kurzer Form auch katholische Visitationen – vorstellen bzw. die brandenburgische Perspektive ergänzen.

Im abschließenden Beitrag erläutert Dagmar Blaha Chancen und Grenzen von Quelleneditionen im digitalen Zeitalter und gibt Einblick in den Arbeitsstand des Projekts »Digitales Archiv der Reformation«. Ein Ziel dieses Projekts ist es, Visitationsprotokolle als zentrale Quellengruppe der Reformation über ein Internetportal virtuell zugänglich zu machen.

Die Aufsätze zeigen aus unterschiedlichen Blickwinkeln den Wert der Schriftzeugnisse für die wissenschaftliche Geschichtsschreibung und die Heimatgeschichtsforschung auf. Neue Herangehensweisen werden sichtbar, interessante Erkenntnisse tun sich auf. Deutlich wird aber auch, dass der Forschungsbedarf immer noch groß ist. Dieser Sammelband ist ebenso zu begrüßen wie der erleichterte Zugang zu den Protokollen durch das vorgestellte Digitalisierungsprojekt.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jens Kunze, Rezension von/compte rendu de: Dagmar Blaha, Christopher Spehr (Hg.), Reformation vor Ort. Zum Quellenwert von Visitationsprotokollen. Beiträge der Tagung des Projektes »Digitales Archiv der Reformation« und des Lehrstuhls für Kirchengeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena am 26. und 27. November 2014 in Jena, Leipzig (Evangelische Verlagsanstalt) 2016, 286 S., zahlr. s/w Abb. (Schriften des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar, 7), ISBN 978-3-374-04162-6, EUR 48,00., in: Francia-Recensio 2018/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45708