Kirchen sind für viele Europäer inmitten komplexer urbaner wie dörflicher Milieus und Atmosphären nur noch fremde Zeichen für unbestimmtes Christentum und durch ihre Glockensignale allenfalls ein fortwährendes Ärgernis. Der einstige zentrale Ort adorativen wie performativen christlichen Bekenntnisses, die Pfarrkirche, und die in vielfältige kommunikative Zusammenhänge von Kirche und Welt, von klerikalem und laikalem Alltag der Nachbarn eingebundene und in dauernder Kommunikation mit Institutionen kirchlicher wie weltlicher Herrschaft stehende Pfarrei, zogen in den letzten zwanzig Jahren ein zunehmendes Interesse der mediävistischen und frühneuzeitlichen Geschichtswissenschaft auf sich – gleichsam Zeichen ihrer beginnenden Historisierung in säkularen westlichen Gesellschaften. Es war deshalb an der Zeit, dass nach der Heerschau des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte vornehmlich über die deutschsprachige Forschung (2013) nun auf der von Michele C. Ferrari und Beat Kümin organisierten Wolfenbütteler Tagung Untersuchungen aus der europäischen Forschung zur spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Geschichte des Niederkirchenwesens präsentiert wurden. Sie sind reizvoll geschieden einerseits in nationale Übersichten (Deutschland, Italien, England), andererseits in regionale Fallstudien (Frankreich, Deutschland, England und südosteuropäisches Karpatenbecken) zu verschiedenen Aspekten der Geschichte der Pfarrei (Fabrik, Bauwesen, Kirchenmusik, Kirchenbibliotheken).

In ihrer Einleitung heben M. C. Ferrari und B. Kümin insbesondere die unterschiedlichen methodischen Schneisen hervor, welche die bisherige Forschung durch das vielgestaltige Quellenmaterial gezogen hat: den gerade die Urbanisierungsgeschichte ungebrochen faszinierenden Kommunalismus – in den letzten Jahren wurde die Pfarrei sogar als ein Movens für die Ausbildung von Stadtgemeinde identifiziert – sowie den in der Frühneuzeitforschung wichtigen, aber für das Mittelalter wenn überhaupt, dann nur auf Inklusivierungs- bzw. Exklusivierungserscheinungen im Clash der Religionen (Christen-Juden-Muslime-indigene Religionen) anzuwendenden Akkulturations- oder Konfessionalisierungsansatz. Das dritte Modell des self-fashioning ist m. E. im Grunde nichts anderes als die kulturhistorische Lesart für Frömmigkeitserscheinungen, die in der mittelalterlichen Geschichtswissenschaft u. a. seit vielen Jahren besonders in der Erforschung verschiedener Elite-Kulturen unter dem Stichwort »Memoria« präsent sind. Aus wirtschaftshistorischer Sicht sind überdies in der letzten Zeit empirische Studien englisch- und deutschsprachiger Provenienz, teils mit quantitativ-methodischem Anspruch, entstanden, die die Pfarrei zudem als gesonderten Oikos begreifbar machten.

In den nationalen Überblicken zum Niederkirchenwesen lesen sich die Leitbegriffe Identität und Kultur, unter denen die Tagung stand, je nach Entwicklungsgeschichte der Pfarreien und ihrer Entfaltungsmöglichkeiten höchst unterschiedlich. Denn es sind allein im deutschsprachigen Kulturraum schon bedeutende Unterschiede für Identität und Kultur der klerikalen wie laikalen Akteure von Pfarreien zu beobachten, wie Enno Bünz, wohl derzeit der beste deutschsprachige Experte, in seinem Beitrag über die ca. 50 000 deutschen Kirchengemeinden deutlich macht, wenn beispielsweise in Großstädten ganz unterschiedlich viele Pfarreien agierten: Die kirchlichen wie laikalen Vorsteher von Pfarreien in Ulm (eine Pfarrei) und Nürnberg (zwei Pfarreien) besaßen zumindest tendenziell in ihrer Eigen- und Fremdwahrnehmung ein völlig anderes soziales Gewicht als vergleichbare Akteure in Erfurt, dessen Stadtgebiet sich 25 Pfarrkirchen teilten. Und in Nord- und Mittelitalien, so eines der wesentlichen Ergebnisse der sintesi des »Altmeisters« italienischer Stadtgeschichtsforschung, Giorgio Chittolini, verhinderte die Dominanz der Mutterpfarreien und die contado-Politik der großen und mittleren Städte, dass sich auf dem Land trotz mancher Anstrengungen lokaler Eliten eigenständige Pfarrkirchengemeinden ausbilden und ähnlich wie im Reich nördlich der Alpen nachhaltig behaupten konnten. Dass nur dauerndes »engaging in collective activities« (Zitat S. Reynolds in Robert N. Swanson, S. 97) und die Fähigkeit dazu eine »imagined community« gleichsam im Prozess – »multi-faceted and fluid« – ausformten, zeigt R. N. Swanson in seinem luziden Beitrag über das Pfarreiwesen Englands und macht u.a. auf die tragende Bedeutung des niederen Klerus für das kirchliche Leben innerhalb der Pfarreien aufmerksam.

Die im zweiten Teil versammelten Beiträge verhandeln kulturelle Interaktionen und Manifestationen innerhalb spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher Pfarreien, der »aktivste(n) Knotenpunkt(e) vormoderner Gesellschaften« (Einleitung, S. 17), gleich ob sich solche Phänomene nun in den von Catherine Vincent beobachteten Kirchenbauprojekten französischer Pfarreien des 13. bis 15. Jahrhunderts widerspiegeln, die aufgrund kollektiver oder privater Initiative mit je verschiedenen Identitäten entstanden waren, gleich auch ob sie sich in der von Arnd Reitemeier im ausgezeichneten Zugriff betrachteten Kontrolle städtischer Räte über die fabrica der Pfarrkirchen und die funktionalen Spielräume der Kirchenpfleger zeigten. Kulturelle Diskurse und deren Materialisation werden fassbar bei der planenden und ausführenden Gestaltung des Baus außerordentlich qualitätsvoller Pfarrkirchen, wie M. Brandl exemplarisch an St. Sebald in Nürnberg (in Abgrenzung zur Konkurrenz der Franziskaner nach 1250) und an St. Johannis in Schweinfurt demonstrierte. Dass die Erforschung der Bedeutung von Musik in der Liturgie wichtig gerade für das Verständnis des bekannten Heiligenkults im ausgehenden 15. Jahrhundert sein kann, verdeutlich M. Williamson an englischen Beispielen. István Monoks Studie endlich überträgt Ergebnisse der rezenten, intensiven Erforschung von Kloster- und Stiftskirchenbibliotheken auf Pfarrbüchereien im Karpatenbecken während der Frühen Neuzeit und erweist die Pfarrkirche in jenem Interferenzraum der Religionen als Ort von Gelehrsamkeit und Bildungsvermittlung.

Nützliche Handschriften-, Personen- und Ortsregister beschließen einen Band, der Orientierung über die Geschichte der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Pfarrei in Europa bietet und einige interessante Methoden für die Erschließung ihrer umfassenden Bedeutung zur Diskussion stellt.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Gerhard Fouquet, Rezension von/compte rendu de: Michele C. Ferrari, Beat Kümin (Hg.), Pfarreien in der Vormoderne. Identität und Kultur im Niederkirchenwesen Europas, Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2017, 280 S., 20 Abb., 2 Tab. (Wolfenbütteler Forschungen, 146), ISBN 978-3-447-10488-3, EUR 62,00., in: Francia-Recensio 2018/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45714