Der Sammelband vereint einige Studien zur Rezeption Senecas in der Frühen Neuzeit, sowohl innerhalb des literarisch-dramatischen wie des ethisch-politischen Feldes. Die beiden einleitenden Beiträge sind der Grundlagenforschung der Manuskript- und Drucküberlieferung gewidmet: Jean-Frédéric Chevalier erinnert daran, dass die Manuskript-Überlieferung (etwa BnF Lat. 8032 u. 8033) der heute als Stemma-Linie A rekonstruierten Tradition, die seit dem 14. Jahrhundert auch über und mit dem Kommentar des Nicolas Trevet weit verbreitet war, in ihrer zwar den Originaltext wohl »verfälschenden« insoweit aber wirkmächtigen Überlieferung gerade auch bei den Frühhumanisten (Lovati, Salutati) die ethisch-christliche Rezeption von »Etruscus« wie des Pseudo-Seneca »Hercules auf dem Aetna« beförderte.

Ähnlich zeigt Carlos Roldán Donoso unter Anwendung der bibliographie matérielle, welche Gründe buchhistorisch dazu führten, dass in einem präzisen Rezeptionskontext wie der iberischen Halbinsel des 16. Jahrhunderts aufgrund einiger wichtiger – gegebenenfalls nur satztechnisch und nicht inhaltlich motivierten – Entscheidungen des Inkunabeldruckers Pedro Hagenbach alle Folgedrucker an etlichen Stellen einen gegenüber der Manuskripttradition des 15. Jahrhunderts anderen »Kompromiss«-Text verbreiteten. Carine Ferradou zeigt die Bedeutung der Seneca-Dramen für den schottischen Monarchomachen George Buchanan gerade hinsichtlich der Motive von Tyrann, Tyrannenmord und Widerstand auf: Bis in die Details des Stils (Emulation der These-Antithese-Akkumulation in den stichomythischen Reden von Senecas »Oedipus«, aber auch in den »Troades« und der »Medea« hier, bei Buchanan’s »Baptistes« dort) wird die Nachempfindung der ethischen Anstößigkeit der Tyranniebefürwortung durch Dramenfiguren wie Herodes beim calvinistischen Autor nachgewiesen (S. 77).

Doch sie zeigt auch die komplexe Verschränkung der antiken Referenz mit den »Modernen« (Machiavelli, Monarchomachen, La Boëtie). Eventuell hätte hier noch die protestantische Prägung stärker herausgearbeitet werden können (die in Fußnote 2 erwähnte Figur des biblischen Gamaliel aus der Apostelgeschichte, mit der das Stück beginnt, verweist z. B. relativ deutlich auf den protestantischen Toleranzdiskurs beginnend mit Castellio, 1551). Auch John Nassichuk zeigt, wie Senecas Dramatik als Palimpsest, sowohl was Form-Emulation wie den Inhalt anbelangt, bei Claude Roillet (1556) durchscheint, gerade hinsichtlich des Chors der »Troades«.

Stanislaw Fiszer sieht in dem Seneca-nahen Stück »Die Abweisung der griechischen Botschafter« [Odprawa posłów greckich, 1578] des Jan Kochanowski eine typisch frühneuzeitliche Adaptation der Themen, die das Kriegsgeschehen um Troja einerseits nicht mehr von Göttern gelenkt, sondern von Menschen nach quasi-soziologisch analysierbaren Gesetzen des Klientelismus bestimmt darstellt, andererseits den christlichen Gott als ein dem weit übergeordnetes »oberstes Organisationsprinzip« einsetzt.

Mary-Nelly Fouligny zeigt anhand der vielfältigen Verwendung in den »Adagia« die starke und auf das Hier und Jetzt bezogene Präsenz Senecas bei Erasmus in einer über 20jährigen Beschäftigung. In einer codicologischen und kontext-historischen Detektivarbeit ermittelt Michael Kramer als Autor der anonym übermittelten ungedruckten Adagien-Sammlungen aus der Zeit ca. 1625–1629 in BnF Ms. fr. 1599 und 6170 den burgundischen Juristen Jean Lacurne und kann entsprechend die Rezeption von Seneca-Sentenzen wie »Caesari omnia licent, propter hoc minus licet«(Ad Polybium 7.2) als konform mit der monarchischen Konzeption bourbonischer Herrschaft nachweisen. Das Projekt der privaten, späthumanistischen Adagiensammlung ist in Text-Auswahl und Zusammenstellung ganz unabhängig von der älteren mittelalterlichen Sammlungstradition.

Jacqueline Lagrée zeigt, wie Seneca in der lipsianischen Tradition auch im frankophonen Raum die Hauptreferenz für neostoisches ethisches Gedankengut war, etwa bei Guillaume du Vair und beim Genfer Simon Goulart, freilich mit unterschiedlichen Schattierungen: Bei Du Vair scheinen Differenzen zum antiken Autor hinsichtlich einer eschatologisch-christlichen Dimension auf; die Referenzbeziehung zwischen der antiken und der christlichen Weisheit ist die der Analogie, nicht der Identität; bei Goulart hingegen wird die quasi natur-christliche Erkenntnisfähigkeit Senecas hinsichtlich der richtigen Einsichten betont, doch wird auch seine Beschränkung als »Quasi-Christ unter Heiden«, der die Unsterblichkeit der Seele nicht kannte, hervorgehoben (S. 202).

María José Alonso Veloso zeigt für Quevedo, wie stark sich dieser am »omnipräsenten« Seneca orientierte: »Das Urteil ist meins, die Worte sind seine [sc. Senecas]; er hat es gesagt, ich wende es an« (S. 223, 247). Auf den Spuren von Pierre Béhar zeigt Anne Wagniart, wie im schlesischen Barock Seneca Referenz für unterschiedliche Positionen sein kann: Der jüngere Caspar David von Lohenstein kritisiert an Seneca die gleichen eher melancholisch-eskapistischen Züge (etwa in »Epicharis«), die er auch dem Werk des Gryphius vorwirft und akzentuiert die ins Positive gewandten Bereiche der prudentia und der gestaltenden Politik.

Der kurze kunsthistorische Beitrag von Martine Vasselin zeichnet den reichen Forschungsstand zu Motiven der Senca-Tod-Darstellung wie zur Seneca-Motivik in der bildenden Kunst seit dem 14. Jahrhundert nach. Alle Beiträgerinnen und Beiträger des Bandes erinnern auf diese Weise, mit teils ganz neuen Fallstudien zu kaum bekannten Texten, teils zu bekannten Autoren neue Lektüren anbietend und den Forschungsstand gut appräsentierend, wie bedeutsam dieser antike Autor für die »lange Renaissance« vom 14. bis zum beginnenden 17. Jahrhundert war: in Dichtung, Dramatik, Politik, Ethik und Kunst.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Cornel Zwierlein, Rezension von/compte rendu de: Marie-Nelly Fouligny, Marie Roig Miranda (dir.), Sénèque dans l’Europe des XVIe et XVIIe siècles: transmissions et ruptures, Nancy (Université de Lorraine – Groupe Europe aux XVIe et XVIIe siècles) 2016, 292 p., nombr. ill. en n/b (Europe XVI–XVII, 23), ISBN 978-2-917030-12-7, EUR 17,00., in: Francia-Recensio 2018/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45716