Was 2017 für Deutschland war, bedeutete 2010 für Schottland: das Jahr des großen Reformationsjubiläums (in diesem Falle: des 450jährigen). 1559/1560 ist in schottischen Geschichten ein festes Datum, nach dem auch gerne periodisiert wird. Freilich unterschied sich das schottische Reformationsgedenken dadurch, dass die herkömmliche Symbiose von Staat und Kirche heutzutage in vielfacher Weise gebrochen ist und dass sich Staat und Kirche, trotz versuchsweiser Vereinnahmung der Reformation durch die Nationalisten, nur sehr zurückhaltend zu einem gemeinsamen Gedenken an 1560 zu entschließen vermochten. Doch ging das Jubiläum auch an der Wissenschaft nicht spurlos vorüber: Der vorliegende Band dokumentiert eine Tagung an der traditionsreichen Universität St Andrews (1410 als erste schottische Universität gegründet, noch ein Jubiläum!), welche sich mit neuen Ansätzen der schottischen Reformationsgeschichte beschäftigte.

Damit wird aber auch bereits die fundamentale Differenz zwischen der heutigen historischen Wissenschaft und einer identitätspolitischen oder konfessionell motivierten Befassung mit der Reformation deutlich. Denn wenn es überhaupt einen gemeinsamen Nenner der neueren Forschungen zur schottischen Reformationsgeschichte gibt, dann ist es der, dass so etwas wie ein »Ereignis Reformation« nicht mehr wahrgenommen wird. Vielmehr sind alle acht Beiträgerinnen und Beiträger des Bandes (sie repräsentieren die jüngere Generation überwiegend schottischer Historiker in diesem Felde) zumindest in einem Punkt einig, dass die großen Daten der politischen und Kirchengeschichte, an denen frühere Generationen ihr Verständnis geschärft haben, so nicht mehr gültig sind.

2010 wurde in St Andrews gleichzeitig eines anderen Jubiläums gedacht: Vor 50 Jahren erschien die magistrale Deutung der schottischen Reformationsgeschichte durch Gordon Donaldson (»The Scottish Reformation«, Cambridge 1960), und seither hat niemand mehr eine Synthese von gleichem Gewicht gewagt. Das hat durchaus auch konzeptionelle Gründe: Den jüngeren Historikerinnen und Historikern erscheint das Geschehen, das als »Reformation« kanonisiert ist, als ein langfristiger Prozess, und zwar in doppelter Hinsicht: Indem man sich von einer konfessionellen Deutung der Reformation abwendet und den Veränderungen, die unter maßgeblicher Einwirkung von John Knox bewirkt wurden, zuwendet, wird erstens deutlich, dass die Kontinuitäten zur mittelalterlichen Kirche stärker sind, als man zu Zeiten glaubte, und dass die Einflüsse der Reformatoren (trotz der namhaften Adligen, die sich für diese einsetzten, und trotz der politischen Durchsetzung), sich erst langfristig wirklich auf die schottische Geschichte auswirken konnten. Wenn die Schotten im 18. Jahrhundert als eingefleischte Protestanten erschienen, die nicht nur in der Doktrin Calvin folgten und im reformierten Katechismus sattelfest waren, sondern auch in ihrer Mentalität zutiefst von reformierten Verhaltensformen geprägt waren, erweist sich das als Ergebnis eines Prozesses, den man sich mindestens bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts ausgedehnt denken muss.

Solche Ergebnisse verdanken sich in hohem Maße nicht nur einem konzeptionellen Umdenken und dem Bemühen, auch katholische Deutungsansätze miteinzubeziehen, sondern auch der verbesserten Tiefenschärfe historischer Kenntnisse. In den vergangenen Jahrzehnten wurden zahlreiche Untersuchungen zu kleineren Städten (jenseits der berühmten vier: Edinburgh, Glasgow, St Andrews, Aberdeen) vorgelegt wie auch zur Durchsetzung der Reformation in ländlichen Gebieten. Sie bestärken insgesamt die Differenzierungen, dass es nicht nur einen Typus der Reformation gab, sondern mehrere (ja, dass die Unterscheidung einer Reformation »von oben« oder »von unten« für Schottland gar nicht anwendbar sei) und dass in jedem Falle reformatorisches Denken einen langen Weg der Umsetzung nehmen musste, bis es schließlich die Köpfe aller Untertanen formieren konnte. Ein weiteres gemeinsames Ergebnis der Beiträge liegt darin, dass man sich von einem Affekt früherer Zeiten freigemacht hat: Die schottische Reformation dürfe auf keinen Fall mit der englischen verglichen werden. Gegenwärtig gibt es zwar noch keine wirklich überzeugende Synthese der »britischen Reformationen« (bei der auch Wales und Irland einzubeziehen wären), aber grundlegende Betrachtungsweisen wie die einer langen Periode der Durchsetzung kommen offenbar aus der englischen Forschung nach Schottland (vgl. Nicholas Tyacke, England’s Long Reformation, 1500–1800, London 1998).

Wer sich für die sozialen und kulturellen Veränderungen interessiert, welche durch die schottische Reformation bewirkt wurden, wird nach wie vor auf das unübertroffene Meisterwerk von Margo Todd zurückgreifen (»The Culture of Protestantism in Early Modern Scotland«, New Haven, London 2002). Was der vorliegende Band beiträgt, sind einzelne Aspekte (zur Reformation bzw. Kontinuität in den Städten St Andrews und Stirling, zur Armenfürsorge, zur Bedeutung des Abendmahls, zur Auffassung der Liturgie, zur Spätscholastik von Aberdeener Philosophieprofessoren in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, eine Spezialstudie zu John Ogilvie, einem in Schottland tätigen Jesuiten, der 1615 hingerichtet wurde, und zur Frage eines gemeinsamen Protestantismus der Engländer und Schotten als Voraussetzung der Anbahnung einer staatlichen Union). Alle diese Studien sind solide und willkommen; sie liefern insgesamt Belege zu den oben skizzierten Grundtendenzen neuerer Forschungen zur schottischen Reformationsgeschichte.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Michael Maurer: John McCallum (ed.), Scotland’s Long Reformation. New Perspectives on Scottish Religion, c. 1500–c. 1660, Leiden (Brill Academic Publishers) 2016, XII–230 p., 4 ill. (St Andrews Studies in Reformation History), ISBN 978-90-04-32393-3, EUR 110,00., in: Francia-Recensio 2018/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45727