Ursprünglich sollte es nur das Einführungskapitel zu einer Doktorarbeit über das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin werden. Doch dann ließ die Literatursuche zu den Anfängen des französischen Diakoniewesens viele Widersprüche und Lücken erkennen, die in einer Einleitung nur halbherzig hätten gekittet werden können. Es gebührt daher dem Autor Gerhard Wenzel hohe Anerkennung, seine 1991 begonnenen Recherchen ohne Abstriche zum Abschluss geführt zu haben, auch wenn allein der hier vorliegende Band den Umfang einer Promotionsschrift hat. Dabei folgte er dem Rat seiner Betreuerin Ute Gause und veröffentlichte seine Forschungen zum Diakoniewesen der Hugenotten in Frankreich und in Berlin in zwei eigenständigen Publikationen, wovon die erste hier besprochen werden soll.
Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel. Einer knappen Einleitung folgt mit Kapitel zwei das Herzstück des Buchs, die diakonische Praxis im französischen Protestantismus von der Reformation bis ins Jahr 1685. Wenzel unterscheidet hier je nach den politischen Rahmenbedingungen in Frankreich eine Anfangsphase vor dem Toleranzedikt von Nantes 1598, eine Blütephase von ca. 1594 bis 1660 und eine Phase erneuter Restriktionen und Repressionen bis zum Revokationsedikt von Fontainebleau 1685. Kenntnisreich und fundiert beschreibt Wenzel hier, wie die ersten protestantischen Gemeinden in Frankreich ein Unterstützungsnetzwerk für die Schwächsten unter ihnen aufbauten, das auf persönliche Kontakte einer »Face-to-Face«-Begegnung setzte und jeden in der Gemeinde in die Pflicht nahm. Charakteristisch für die protestantischen Gemeinden ist dabei, dass es ihnen nicht um die Perpetuierung der Armut ging, sondern um Hilfe zur Selbsthilfe und diese Unterstützung im Einzelfall auch Bedürftigen katholischen Glaubens zugutekam. Dabei spielte für die Gemeinden Bildung und Ausbildung der unteren Schichten eine zentrale Rolle, um Kinder und vor allem Waisen in qualifiziertere Arbeit zu bringen.
In diese Logik fügte sich auch die Gewährung von Kleinkrediten für Handwerker ein. Bei der Betreuung von Alten und Kranken waren die französischen Gemeinden die meiste Zeit genötigt, ein ambulantes und im Verborgenen wirkendes Netz aus Besuchsdiensten aufzubauen und zu unterhalten. Hier wirkten auch Frauen eigenverantwortlich mit. Für die Gemeinden war die diakonische Arbeit überlebenswichtig, die daher effektiver sein musste, als die Hilfsangebote von katholischer Seite. Gerhard Wenzel zeigt hier sehr anschaulich, wie alle aus dem Berliner Refuge bekannten Unterstützungsleistungen französischer Gemeinden bereits im Frankreich des 16. Jahrhundert ausgebildet sind.
Das Anliegen des Autors ist nachzuweisen, dass die spezifische Ausprägung des französischen Diakoniewesens Produkt des politischen und gesellschaftlichen Umfeldes ist und diese diakonische Praxis auf die theologische Fundierung des französischen Protestantismus wirkte und nicht umgekehrt. Folgerichtig schließt sich dem Kapitel zur diakonischen Arbeit ein Kapitel zum Stellenwert der Diakonie in den theologischen Schriften und Predigten des französischen Protestantismus bis 1685 an. Hier kann Wenzel mit gängigen Fehlinterpretationen von Calvins Werk aufräumen, allen voran die in Wirklichkeit auf den Calvinismus im England des 18. Jahrhunderts gemünzte These Max Webers vom Zusammenhang des Kapitalismus mit protestantischer Ethik. Tatsächlich kommt die für Webers Analyse so zentrale Prädestinationslehre in Calvins Schriften nicht nur am Rande vor. Sie besagt ferner keineswegs, dass sich im beruflichen Erfolg eines gläubigen Reformierten seine Erwählung durch Gott widerspiegle. Vielmehr gilt nach Calvin die Prädestination Gottes ausnahmslos für alle Menschen. Gerade unter dem Eindruck der wiederaufkeimenden Verfolgung und Unterdrückung der Protestanten ab Mitte des 17. Jahrhunderts, wurde die Idee von der Prädestination von Predigern wie Pierre du Bosc dafür genutzt, seiner Gemeinde Trost zu spenden, damit sie angesichts der Repressalien und der daraus resultierenden wirtschaftlichen Not nicht den Glauben verliert.
Was Calvin dagegen häufig thematisiert, mutet heute wiederum sehr modern an, nämlich einen Ausgleich zu schaffen zwischen Reich und Arm. Dabei fordert Calvin mit Nachdruck persönliches Engagement, insbesondere der Wohlhabenden, und aktive Nächstenliebe an den Bedürftigen, mit denen man in der Gemeinschaft beim Abendmahl verbunden ist. So ist es eben nicht der Arme, von dem sich abgegrenzt werden kann, sondern »Dein Armer!« für den jeder in der Gemeinde Verantwortung trägt. Dieses Kapitel zeigt nicht nur sehr detailliert, wie Calvins Vorstellungen zur diakonischen Arbeit und ihr Stellenwert in der Gemeinde vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in Straßburg und Genf gewachsen sind. In dem es sehr prägnant Calvins Haltung zu Wohlstand, Arbeit und Armut wiedergibt, eröffnet es einen unverstellten Blick auf seine Sozialethik und weist Fehlzuschreibungen, wie innerweltliche Askese und mythische Überhöhung des Genfer Reformators gleichermaßen zurück.
Wichtig, wenn auch keine unbedingt neue Erkenntnis, dafür aber gut belegt, ist das Verhältnis zur Obrigkeit, das in den in Predigten von Pierre du Bosc, Jean Daillé und Charles Drélincourt aufscheint und auch später das Berliner Refuge prägen wird. Während sich nämlich zeitgleich in England Protestanten auf ein Widerstandsrecht berufen und ihren als illegitim empfundenen katholischen König verjagen, bleibt den Hugenotten in Frankreich keine andere Wahl, als trotz einsetzender Repressalien loyal zu ihrem Souverän Ludwig XIV. zu stehen.
Ein knappes viertes Kapitel setzt die Erkenntnisse aus den Kapiteln zwei und drei noch einmal in Beziehung zueinander, bevor das fünfte Kapitel am Beispiel der französischen Gemeinden in Frankfurt am Main und Emden eindrucksvoll zeigt, wie stark die Erfahrungen der Gemeinde in Straßburg bezüglich der diakonischen Praxis im Refuge des 16. Jahrhunderts nachwirkten. Das Buch beschließt eine ebenfalls sehr kurze Überleitung zum eigentlichen Kern von Wenzels Forschung, der seit April 2016 auch als Buch vorliegt und auf 742 Seiten »das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin« zum Gegenstand hat.
Insgesamt bietet das Buch eine sehr fundierte Bestandsaufnahme der diakonischen Praxis und ihrer theologischen Begründung im französischen Protestantismus. Sämtliche der zahlreichen französischen Zitate sind dabei größtenteils vom Autor selbst übersetzt worden. Wenzels Ausführungen stützen sich auf eine breite Literaturbasis, so dass er etliche Fehler in der Sekundärliteratur korrigieren und auch die Schlussfolgerungen der bisherigen Forschungen in vielen Punkten widerlegen kann, um zu neuen Bewertungen zu kommen.
Kritisch anzumerken bleibt einzig, dass der für beide Publikationen gewählte Untertitel auf diesen Band nicht so recht passen will. Wer angesichts des Schlagwortes »Bemächtigung« Ausführungen zur Sozialdisziplinierung in der diakonischen Praxis erwartet, wird sich hier mit ein paar Randbemerkungen des Autors zufrieden geben müssen. Dessen ungeachtet hat Wenzel mit diesem Buch eine Forschungslücke geschlossen und sein Werk wird wegen der Fülle an neuen Erkenntnissen und der Einordnung in historische und geistesgeschichtliche Zusammenhänge für die künftige Forschung unerlässlich sein.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Silke Kamp, Rezension von/compte rendu de: Gerhard Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Frankreich – von der Reformation bis 1685. Diakonie zwischen Ohnmacht, Macht und Bemächtigung, Göttingen (V&R unipress) 2013, 358 S., ISBN 978-3-8471-0212-0, EUR 49,99., in: Francia-Recensio 2018/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45736