»Die Reise«, konstatierte Hans Magnus Enzensberger in seiner Theorie des modernen Tourismus, »gehört zu den ältesten und allgemeinsten Figuren menschlichen Lebens«1. Nach der ökonomischen Not und Notwendigkeit brachte vor allem die intellektuelle Neugierde die Menschen in Bewegung. Jede Reise zeichnet einen Aufbruch und eine Ankunft aus. Nicht zu vergessen ist ihr »Abschluss«, das heißt die reflektierende Verarbeitung des Gesehenen.
Dass die »Berichte« der »heimgekehrte[n] Tourist[en]« viel mit deren Persönlichkeit zu tun haben, stellte auch Frédéric Sallée fest, der für seine Promotion „Reisen und Reisende in das nationalsozialistische Deutschland“ untersucht hat. Über tausend Reisende aus 52 Nationen konnte der Historiker namhaft machen. Eine beeindruckende Zahl. Die von den Besuchern publizierten Berichte wertete Sallée für seine Dissertation aus, die 2014 von der Universität Grenoble angenommen wurde. Das zweibändige Werk erschien 2017 als einbändige Buchhandelsausgabe bei Fayard in der Reihe »Histoire«. Dass der bekannte Verlag und sein Lektorat viele Umlaute selbst bei Eigennamen wie Ernst Thälmann unterschlagen haben, überraschte den Leser, bis auf S. 239 der britische Botschafter »Sir Neville Anderson« (sic!) mit seinen Erinnerungen »Fehlschlag einer Mission« zu Wort gekommen ist2.
Den drei Reisephasen folgend entfaltet der Autor ein beeindruckendes Panorama des nationalsozialistischen Deutschland, das den Leser mit seiner detaillierten Darstellung auf die Probe stellt. So werden nicht nur der Wandel der Reisemöglichkeiten und -motive thematisiert, sondern auch die veränderten Reiseziele und -zwecke erörtert. In kurzen Passagen werden die einzelnen »Entdeckung[en]« der Reisenden präsentiert und interpretiert. Dass bei dem mikrohistorischen Vorgehen die makrohistorischen Zusammenhänge nicht immer klar sind, ist eine Konsequenz des methodischen Ansatzes und des ausufernden Quellenkorpus.
Auch wenn die dargestellten Geschichten nicht zu einer Geschichte integriert worden sind, bilden sie einen unglaublich umfangreichen Fundus, der die Kenntnisse über das französische, aber auch britische Bild vom nationalsozialistischen Deutschland bereichert, gerade weil die Darstellung nur aus inoffiziösen Quellen schöpft. Dass diese Beschränkung gelegentlich zu Fehlurteilen führt, sei von dem Rezensenten, der mit der diplomatischen Berichterstattung zu den deutsch-französischen Beziehungen in den 1930er Jahren gearbeitet hat, am Rande erwähnt. Auf die Frage nach der deutschen Wiederbewaffnung gab die französische Botschaft in Berlin jedenfalls nicht nur eine Antwort. Insofern kann von einer »incapacité des réseaux diplomatiques« (S. 80f.) eigentlich nicht die Rede sein. Außerdem machte sich nicht zuletzt der Botschafter selbst um die Beschreibung des »chef« der Nationalsozialisten verdient, wenn man nur an seine Beschreibung des »Mussolini de village« vom 9. Februar 1933 denkt. Nicht unkritisch sind auch die unkommentierte Vermischung zeitgenössischer Berichte mit nachträglichen Darstellungen und das fehlende Literaturverzeichnis zu sehen.
Die methodischen Schwächen der Untersuchung verblassen aber angesichts der analytischen Stärke, die die Darstellung zum Beispiel auf den »Gebieten« des Antisemitismus (S. 327ff.) erreicht. Dass die Verfolgung der deutschen Juden von den ausländischen Besuchern – mit Ausnahme vieler Briten – »minimalisiert« worden ist, führt der Autor überzeugend auf »Tarnung« und »Täuschung«, aber auch auf eine lokale »Depolitisierung« zurück, die den allgegenwärtigen Antisemitismus zeitweise von der Bildfläche verschwinden ließ.
Trotz dieser Bemühungen sei aber die nationalsozialistische Weltanschauung ab 1933 »wahrnehmbar und analysierbar« (S. 417) gewesen, schließt Frédéric Sallée. Das mag dem rückblickenden Historiker, der sich selbst als »schwachen Wachtposten« sieht, so scheinen, die zeitgenössischen Reisenden sind in der Regel den »Sirenen« des »Nazismus« erlegen, die eine Antwort auf das gealterte, überholte und nicht mehr zeitgerechte »politische Modell« der jeweils eigenen Heimat zu geben schienen. So gesehen boten die Reisen in das nationalsozialistische Deutschland den Reisenden immer auch Anlass und Möglichkeit, sich die eigenen (Vor-)Urteile bestätigen zu lassen. Hatte also Roland Barthes recht, als er 1957 in den »Mythologies« den Touristen zu jener Teilmenge der Menschheit rechnete, die von Natur aus des Urteils beraubt ist?
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Claus W. Schäfer: Frédéric Sallée, Sur les chemins de terre brune. Voyages dans l’Allemagne nazie 1933–1939, Paris (Fayard) 2017, 510 S., 4 ill. (Histoire), ISBN 978-2-213-70066-3, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2018/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45925