Am 28. Juli 1948 explodierte auf dem Werksgelände der Badischen Anilin- und Sodafabrik (BASF) in Ludwigshafen ein Kesselwagen mit Chemikalien, wodurch 207 Menschen getötet und weitere 3.818 verletzt wurden. Die Katastrophe rief umgehend Erinnerungen an eine vergleichbare Explosion im nahe gelegenen Oppau wach, die sich am 21. September 1921 in einem BASF-Lager für Ammonsulfatsalpeter ereignet hatte. Dabei waren 559 Menschen getötet, weitere 2.000 verletzt und die Gemeinde Oppau beinahe völlig zerstört worden. Lisa Sanner hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese weitgehend vergessenen Katastrophen, die zu den größten der deutschen Industriegeschichte zählen, aus ihrem gesellschaftlichen Kontext heraus zu untersuchen. Ihre Studie, die 2014 an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen wurde, bereichert den jungen Zweig der historischen Katastrophenforschung1.
Auf der Grundlage sozial- und kulturgeschichtlicher Forschungsansätze und Analysekategorien untersucht die Autorin jeweils die Ursachen und Auswirkungen der Katastrophe in ihrem spezifischen Nachkriegskontext. Die Darstellung gliedert sich in zwei Hauptkapitel, die in jeweils vier Schritten zunächst den präkatastrophalen Kontext (national, regional, arbeitergeschichtlich, betriebsgeschichtlich), sodann die »materielle« Bewältigung, anschließend die »immaterielle« Bewältigung (Ursachenforschung, Berichterstattung und Sinnstiftungen) und abschließend die Politisierung der Katastrophe herausarbeiten. Hierfür hat Sanner ein breites Quellenkorpus regionaler, nationaler und französischer Provenienz eingesehen und aktuelle Forschungsliteratur der deutschen und angelsächsischen Forschung berücksichtigt.
In der Beschreibung des präkatastrophalen Kontexts beginnt die Autorin jeweils damit, »vulnerable Strukturen« (S. 26) in Gesellschaft und Politik und der jeweils französisch besetzten Pfalz zu analysieren. Während sie für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg unter anderem die allgemeinen und betriebsspezifischen Reparationslasten, die politische Instabilität der jungen Republik und die reichsweiten Arbeitskämpfe mit verhärteten Fronten als wesentliche Merkmale identifiziert, stehen vor der Katastrophe von 1948 die Mangelernährung, Demontage und Entflechtung der I. G. Farben sowie der heraufziehende Ost-West-Konflikt im Vordergrund. Ein wichtiger Unterschied zwischen den beiden Katastrophen besteht in der veränderten Konstellation zwischen der Unternehmensführung der BASF und ihren Arbeitern, die sich vor der Explosion von 1948 nicht an den großen Streiks beteiligten (S. 263).
Nach kurzen Beschreibungen der Katastrophenereignisse geht die Autorin jeweils zur Schilderung der Bewältigungsprozesse über. Hinsichtlich der materiellen Bewältigung stellt Sanner bei der Oppauer Katastrophe das Novum des Ausmaßes, die Improvisation und die Eigenheiten des Oppauer Hilfswerks heraus. Anschaulich beschreibt sie auch gesamtgesellschaftliche, politische und internationale Reaktionen, vom Katastrophentourismus bis hin zur Spendenbereitschaft und der Verarbeitung in der Presse. Hinsichtlich der zweiten Katastrophe von 1948 stellt Sanner unter anderem das intuitive Handeln der Helfer und Helferinnen und die stärkere zeremonielle Präsenz der französischen Besatzungsmacht heraus, die zu diesem Anlass bereits ihre Hoffnung auf Völkerverständigung äußerte.
Parallelen in der Katastrophenbewältigung finden sich in der spontanen Hilfe der französischen Besatzer, die unverzüglich zonenexterne Hilfe aus Mannheim zuließen. Bemerkenswert ist in beiden Fällen auch die jeweilige mediale und politische Instrumentalisierung der Katastrophen, welche die Autorin präzise erörtert. Während im Jahr 1921 Spekulationen über geheime Sprengstoffproduktionen in der französischen und angelsächsischen Presse um sich griffen, nutzten Militär- und SED-Vertreter der Ostzone das Unglück von 1948 zur Inszenierung einer langanhaltenden Kampagne gegen den angeblichen Militarismus der Westmächte.
Insgesamt gelingt der Autorin eine fundierte und facettenreiche Darstellung der Katastrophenursachen und -auswirkungen2. Multiple Abhängigkeitsverhältnisse und Interaktionsprozesse zwischen Opfern beziehungsweise Angehörigen, Gemeinde, Unternehmen, Region und Politik treten ebenso hervor wie die Veränderungen transzendentaler Sinnstiftungen und Schlüsselbegriffe. Die differenzierte Darstellung mit ihrer extensiven Verarbeitung von Quellenzitaten überlagert jedoch die Ansätze eines systematischen Vergleichs der Katastrophen. Hierfür wird die methodologische Grundlage auf wenige Analysekriterien und gegebenenfalls auf eine Perspektive (Opfer, Arbeiter, Unternehmensführung, Presse, etc.) zu begrenzen sein. Als detaillierte, zudem reich bebilderte Grundlagenarbeit offeriert die Studie der historischen Katastrophenforschung insofern Anregungen zur weiteren Abstrahierung der Erkenntnisse und zum systematischen Vergleich. Denkbar sind beispielsweise Vergleiche von Reaktionsmustern der Unternehmensführung, von Grenzen der Rechtssysteme und Institutionen nach Katastrophenereignissen, oder auch von Erfahrungen des »kollektiven Todes« (mort collective).3. Insgesamt leistet Sanners Studie einen grundlegenden Beitrag zur Geschichte der deutschen Industriekatastrophen, zur Geschichte der BASF und zur Geschichte der deutschen Nachkriegsgesellschaften.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Florian Pfeiffer, Rezension von/compte rendu de: Lisa Sanner, »Als wäre das Ende der Welt da«. Die Explosionskatastrophen in der BASF 1921 und 1948, Ludwigshafen am Rhein (Stadt Ludwigshafen Stadtarchiv) 2015, 486 S., 89 Abb. in Abbildungsteilen, 37 im Text (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Ludwigshafen am Rhein, 42), ISBN 978-3-924667-47-4, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2018/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45926