Die letzten Jahre brachten dank einer Reihe innovativer geschichts- und rechtswissenschaftlicher Untersuchungen einen enormen Erkenntnisgewinn zu den Nürnberger Prozessen. In diesen Trend reihen sich zwei neue Publikationen ein, die unterschiedliche Aspekte der Nürnberger Gerichtsverfahren beleuchten. Bei der ersten Monographie handelt es ich um das ursprünglich auf Englisch erschienene Buch von Harry Carl Schaub über Erwin Lahousen, den »ersten Zeugen« im Prozess gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher1.
Der Titel bezieht sich auf die Zeugenaussage Lahousens vor dem Internationalen Militärtribunal (IMT): Als ehemals hochrangiger Offizier der Abwehr und einer der wenigen überlebenden Angehörigen des Widerstandskreises um Wilhelm Canaris stellte Lahousen sich bei Kriegsende den amerikanischen Anklägern als Kronzeuge zur Verfügung und berichtete am 30. November 1945 im Zeugenstand des Nürnberger Schwurgerichtssaals schonungslos von der massenhaften Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener und zahlreichen weiteren deutschen Kriegsverbrechen. Lahousens Aussage führte zu tumultartigen Szenen im Gerichtssaal und brachte ihm wüste Beschimpfungen von Seiten der angeklagten NS-Führer ein, die ihn als Verräter brandmarkten. Für zahlreiche Beobachter handelte es sich um einen der spektakulärsten Momente des etwa zehn Monate dauernden Gerichtsverfahrens. Wohl aus diesem Grund geht Schaub, selbst pensionierter Nachrichtenoffizier der US Army, davon aus, dass die Nürnberger Episode das Schlüsselereignis in Lahousens Biografie darstellt, und legt sie seinem gesamten Buch zugrunde.
Tatsächlich geht es dem Verfasser nämlich weniger darum, sich mit den juristischen Problemen des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher auseinanderzusetzen, sondern vielmehr will er einen Überblick über Lahousens Lebensweg geben. Zu diesem Zweck hat Schaub mit den Lahousen betreffenden Unterlagen gearbeitet, über die das Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg verfügt. Zu Nürnberg dagegen hat er lediglich die einschlägige Literatur herangezogen. Das Ergebnis eines solchen Vorgehens ist ein Aufbau, der dem Buch auf den ersten Blick einen roten Faden verleiht, dessen Zweckmäßigkeit bei näherem Hinsehen jedoch bezweifelt werden muss.
Beinahe jedes der insgesamt 13 Kapitel setzt im Nürnberger Schwurgerichtssaal ein und schildert zunächst einen Teil der Zeugenaussage Lahousens. Davon jeweils ausgehend erläutert Schaub in der Folge zum einen den Werdegang seines Protagonisten, zum anderen aber auch die Entwicklung des NS-Regimes und vor allem die großen Verbrechenskomplexe, die später in Nürnberg zur Anklage gebracht wurden. Dadurch entfernt er sich jedoch immer wieder zu weit von der Person Lahousens, um eine Biografie über diesen zu schreiben, und das unentwegte Wiederaufgreifen der Zeugenaussage, mit dem ständige Sprünge in der Chronologie verbunden sind, wirkt auf den Leser bald gekünstelt und ermüdend. Hinzu kommt, dass der Verfasser keinerlei Bewertung der Aussage für den Ausgang des Prozesses vornimmt, obwohl diese doch die Folie für seine gesamte Darstellung bietet. Welche Bedeutung Lahousens Angaben für die Nürnberger Urteilsfindung hatten und inwieweit die alliierten Richter in ihrem Urteil auf diese Bezug nahmen, bleibt bei der Lektüre bedauerlicherweise gänzlich unklar.
Über Lahousen selbst dagegen weiß Schaub durchaus bislang kaum bekannte Dinge zu berichten: Auf der Grundlage von unveröffentlichten Memoiren von Lahousens Geliebter, der französischen Nachrichtenoffizierin Madeleine Bihet-Richou, zeichnet Schaub dessen Spionagetätigkeit für den französischen Auslandsgeheimdienst nach, die 1937 konkrete Formen annahm und bis in den Zweiten Weltkrieg hinein andauerte. Alles in Allem bietet das Buch daher wertvolle Einblicke in das Leben Erwin Lahousens. Für ein Publikum, das sich in erster Linie für das Geschehen in Nürnberg interessiert, enthält es dagegen kaum neue Erkenntnisse.
Ein anderes Anliegen verfolgt Benedikt Salleck mit seiner Studie über die Strafverteidigung in den Nürnberger Prozessen, die als rechtswissenschaftliche Dissertation an der Philipps-Universität in Marburg entstanden ist. Salleck untersucht die Tätigkeit des Rechtsanwalts Friedrich Bergold als Verteidiger in mehreren Nürnberger Verfahren. Im Vordergrund stehen dabei die Argumentationslinien des Juristen, die dieser in den einzelnen Fällen entwickelte und der Anklage gegen seine Mandanten entgegensetzte. Grundlage für die Studie sind in erster Linie Verteidigerakten, die heute im Nürnberger Staatsarchiv aufbewahrt werden.
Neben dem Versuch, die Nürnberger Verteidiger als Gruppe zu erfassen, wie ihn zuletzt Hubert Seliger überzeugend unternommen hat, erscheint es durchaus lohnend, das Wirken eines ausgewählten Anwalts näher zu untersuchen und hier insbesondere die individuellen Besonderheiten herauszuarbeiten2. Schließlich waren in Nürnberg in den unterschiedlichen Kriegsverbrecherverfahren mehr als 250 deutsche Juristen als Verteidiger tätig, so dass es illusorisch wäre, eine vollständige Kollektivbiographie über diese Gruppe schreiben zu wollen. Salleck jedoch bleibt der Leserschaft eine Erklärung schuldig, warum er unter den Nürnberger Verteidigern gerade Friedrich Bergold ausgewählt hat und sich auf diesen konzentriert.
Diese Entscheidung kann durchaus infrage gestellt werden: Bergold verteidigte im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher lediglich den in Abwesenheit angeklagten Martin Bormann und hatte schon dadurch keine Möglichkeit, in Abstimmung mit seinem Mandanten eine effektive Verteidigungsstrategie zu entwickeln. Auch gehörte er nicht zum Kreis der Anwälte, die sich wie beispielsweise Alfred Seidl, Otto Kranzbühler oder Robert Servatius vor dem IMT durch spektakuläre Manöver und aufsehenerregende Plädoyers besonders profilierten. Nach Abschluss des Hauptkriegsverbrecherprozesses vertrat er in den anschließenden amerikanischen Militärgerichtsverfahren in Nürnberg zwar weitere, mitunter namhafte Angeklagte. Aber auch hierbei handelt es sich keineswegs um eine Besonderheit, waren doch viele Verteidiger aus dem Prozess vor dem IMT später noch in weiteren Kriegsverbrecherprozessen tätig.
Etwas willkürlich wirkt auch die Auswahl, die Salleck innerhalb seines Themas trifft, da er neben Bormann lediglich drei weitere von Bergold übernommene Fälle behandelt, nämlich jene des Generalinspekteurs der Luftwaffe Erhard Milch, des SS-Juristen Horst Klein und des Einsatzgruppenkommandeurs Ernst Biberstein. Bergolds Verteidigertätigkeit für den österreichischen Wehrmachtsgeneral Franz Böhme und den NS-Propagandafunktionär Otto Dietrich in zwei weiteren der Nürnberger Verfahren wird von Salleck hingegen stillschweigend übergangen.
Nichtsdestotrotz arbeitet der Verfasser nach einem einführenden Kapitel in vier Abschnitten die durch die Anklage vorgebrachten Anschuldigungen in den Fällen Bormann, Milch, Klein und Biberstein und die jeweiligen Erwiderungen Bergolds sorgsam heraus und zieht für jeden Fall Bilanz, inwieweit die Argumente des Juristen die Richter zu überzeugen vermochten, und seine Tätigkeit in Nürnberg von Erfolg gekrönt war. Am augenscheinlichsten ist ein solcher konkreter Erfolg Bergolds sicher bei der Verteidigung Kleins, für den er am Ende des Prozesses gegen das Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS einen Freispruch erreichen konnte. Angesichts einer erdrückenden Beweislast wurden demgegenüber Bormann und Biberstein in ihren Verfahren zum Tode, sowie Milch zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt3.
Hervorzuheben ist die gründliche Quellenarbeit Sallecks, der nicht nur das vorhandene Schriftgut aus den Prozessen ausgewertet, sondern auch weitere Quellen erschlossen hat. Zu diesen zählt vor allem ein umfangreiches Interview, das der Verfasser mit einer ehemaligen Sekretärin Bergolds führte und das im Anhang des Buches abgedruckt ist. Daher bietet die Studie nicht nur eine Zusammenfassung des durch die Prozessunterlagen Dokumentierten, sondern eröffnet über die juristische Materie hinaus auch neue Einblicke in die Tätigkeit Bergolds. Für die Forschung zu den Nürnberger Verteidigern und ihrer Rolle in den Kriegsverbrecherverfahren stellt sie damit in jedem Fall eine Bereicherung dar.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Matthias Gemählich: Harry Carl Schaub, Abwehr-General Erwin Lahousen. Der erste Zeuge beim Nürnberger Prozess. Aus dem Englischen von Martin Moll, Wien, Köln, Weimar (Böhlau) 2015, 312 p., 8 s/w Abb., ISBN 978-3-205-79700-5, EUR 35,00; Benedikt Salleck, Strafverteidigung in den Nürnberger Prozessen. Prozessabläufe und Verteidigungsstrategien dargestellt am Wirken des Verteidigers Dr. Friedrich Bergold, Berlin (Duncker & Humblot) 2016, 383 S. (Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht, 25), ISBN 978-3-428-14801-1, EUR 89,90. , in: Francia-Recensio 2018/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45927