Obwohl es Einheitstendenzen in der Geschichte der Christenheit immer gegeben hat, ist die Ökumenische Bewegung ein Produkt des 20. Jahrhunderts. Ihr Gründungszeitpunkt wird in der Forschung einvernehmlich auf das Jahr 1910 datiert, in dem die Weltmissionskonferenz in Edinburgh stattfindet. Prägende Persönlichkeiten dieser ersten Phase der Ökumenischen Bewegung sind unter anderem Nathan Söderblom (1866–1931), George Bell (1883–1958) und William Temple (1881–1944). Nicht so oft erwähnt wird in der Literatur der Name Willem Adolph Visser ’t Hooft (1900–1985), dem sich Jan Schubert in seiner Dissertation widmet. Deren Untersuchungsgegenstand ist schwerpunktmäßig »die Versöhnung und Einigung der europäischen Nationen als genuin christliche Aufgabe« (S. 10).
Am Beispiel des niederländischen Theologen und ersten Generalsekretärs des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) soll der Beitrag evangelischer Persönlichkeiten und Institutionen zum europäischen Einigungsprozess verdeutlicht werden. Die zentrale These der Arbeit ist, dass durch die Krise der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen bei Willem Adolph Visser ’t Hooft ein Bewusstsein und Bild von Europa heranreifte, welches entscheidend durch seine ökumenische Denkweise beeinflusst sei. Dementsprechend lautet die Leitfrage Schuberts: »Welche Europavorstellungen hat Visser ’t Hooft entwickelt und wie haben sich diese über die Zeit verändert?« (S. 11).
Dazu wählt Schubert einen biografischen Zugang, indem er einen Überblick über Willem Adolph Visser ’t Hoofts Werdegang gibt (S. 21–75). Eingangs werden Einflüsse, die für sein Denken entscheidend waren, und Mentoren, die den Werdegang des Niederländers förderten, herausgearbeitet (S. 21–40).
Das darauffolgende zweite Kapitel beschäftigt sich mit den Herausforderungen, vor die sich das Provisorische Komitee des Ökumenischen Rates der Kirchen (PKÖRK) während des Zweiten Weltkrieges gestellt sah. Im Zuge des Konflikts mit dem kirchlichen Außenamt der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) sei Visser ’t Hooft bewusst geworden, dass sich das PKÖRK von seiner überparteilichen Haltung zu lösen habe (S. 40–49). Es müsse eine Kooperation mit dem deutschen Widerstand ermöglicht werden, in der das PKÖRK als eine Vermittlungsstelle zwischen diesem und den Alliierten zu fungieren habe (S. 49–57). Darüber hinaus habe sich das Komitee im karitativen Bereich zu beweisen sowie beim Neuaufbau des kirchlichen Lebens, für den Visser ’t Hooft bereits während des Kriegs die nötigen Schritte entwarf und für den er speziell die Versöhnung zwischen den Kirchen der kriegführenden Länder als Voraussetzung betrachtete (S. 57–60). Zum Abschluss des Kapitels geht Schubert auf Visser ’t Hoofts Rolle als Generalsekretär des ÖRK (1948–1966) ein (S. 60–75) und nennt als seine herausragende Leistung die »ökumenische Mobilisierung« (S. 63–66).
Unter dem Stichwort »Die internationale Ökumene und Europa« wird im dritten Kapitel die Entwicklung des Europagedankens in der Ökumenischen Bewegung skizziert, die in den 1920er und 1930er Jahren begann. Die »Hochphase ökumenischen Europadenkens« setzte mit der ökumenischen Studienarbeit im Jahr 1939 ein (S. 82–102). Zu Recht werden in diesem Kontext Visser ’t Hoofts Bemühungen hervorgehoben, den deutschen Widerstand in den ökumenischen Europadiskurs einzubinden (S. 87–94). Allerdings entwickelten sich im PKÖRK die Vorstellungen von einer zukünftigen Ordnung Europas auseinander, obwohl man sich über die Errichtung einer Europäischen Föderation grundsätzlich einig war. Während sich Genf für einen Neuanfang aussprach, der von Europa selbst auszugehen habe, vertraten die anglo-amerikanischen Mitgliedskirchen ein Europamodell, das sich an ihrer eigenen ideologischen, wirtschaftlichen und politischen Ausrichtung zu orientieren hatte. Obwohl in der ökumenischen Studienarbeit die Gespräche über die europäische Nachkriegsordnung fortgesetzt wurden, führte deren Ergebnislosigkeit dazu, dass sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit von der Genfer Agenda bzw. der des ÖRK verschwanden. Die Auseinandersetzung mit Europa blieb jedoch in einzelnen autonomen Arbeitsgemeinschaften präsent (S. 94–114).
Der Hauptteil der Monografie ist den Europavorstellungen Visser ’t Hoofts im Zusammenhang mit der weltweiten Ökumene gewidmet (S. 115–221). Ausführlich wird zunächst in diesem vierten Kapitel sein Geschichtsbild erörtert. Der Theologe führte die Probleme der Zwischenkriegszeit auf den Säkularisierungs- und Differenzierungsprozess zurück, der sich seit dem Mittelalter entwickelt habe. Als Resultat dieses Prozesses betrachtet Visser ’t Hooft die Auflösung des zuvor einigen Corpus Christianum, die neben der Ausdifferenzierung kollektiver Werte und Ziele zu einer Entchristlichung der modernen Gesellschaft geführt habe. Deshalb seien die Menschen für ideologische Bewegungen wie den Nationalsozialismus anfällig geworden. Gerade die Kirchen, so Visser ’t Hooft, hätten sich von diesem Gedankengut zu befreien (S. 115–146). Auf diesem Geschichtsbild baute sein Entwurf für ein neues Europa auf. Ausführlich stellt Schubert in diesem Rahmen die Vorstellungen des Theologen für die Neuordnung des Kontinents dar, die die Erneuerung sowohl des Christentums als auch der Kirchen voraussetzte.
Neben der Forderung nach einer Rechristianisierung (S. 169–173) wies Visser ’t Hooft der Ökumene in diesem Prozess eine Vorbildfunktion zu (S. 165–169). Die Kirchen selbst hätten gemeinsame Stellungnahmen zu politischen und gesellschaftlichen Themen zu erarbeiten, wodurch sie zur Bewahrung eines weltumfassenden Ethos, das für eine Staatenordnung die Voraussetzung sei, beitragen könnten (S. 146–158). Ferner sprach sich Visser ’t Hooft für eine überstaatliche Hoheitsgewalt aus und stimmte damit größtenteils mit den Ansichten deutscher Widerstandskreise überein. Er machte sich daher für einen autonomen deutschen Staat in der Nachkriegsordnung Europas stark. Mit dem Beginn des Kalten Kriegs tendierte Visser ’t Hooft zu einem Europa, welches als eine Art »Dritte Kraft« zwischen den ideologischen Blöcken der USA und der Sowjetunion fungieren sollte. Obwohl er sich somit für eine autarke Rolle Europas einsetzte, konnte er den westlichen Bündnisprozess gleichfalls bejahen (S. 182–221).
Die chronologische Struktur des Buches ermöglicht es den Lesern nicht nur den Werdegang von Visser ’t Hooft nachzuvollziehen, sondern auch dessen Prägungen, Ansichten, seine Suche nach Positionen und Entscheidungen sowie seine Bedeutung für die Ökumenische Bewegung zu verstehen. Sehr gut werden die Rolle der Ökumene und die Pläne Visser ’t Hoofts für die auf den Zweiten Weltkrieg folgende europäische Ordnung herausgearbeitet. Auf diese Weise ermöglicht es Schubert den Leserinnen und Lesern, nicht nur die Fundamente dieser europäischen Ordnung zu entdecken, sondern auch deren Entwicklung aus der Sicht des ÖRK nachzuvollziehen. Gleichzeitig führt er dadurch die Bedeutung der Ökumene für die Zukunft der Europäischen Union vor Augen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sebastian Walser: Jan Schubert, Willem Adolph Visser ’t Hooft (1900–1985). Ökumene und Europa, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2017, 263 S. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 243), ISBN 978-3-525-10151-3, EUR 65,00., in: Francia-Recensio 2018/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45929