Deutsche Soldaten knipsten während des Zweiten Weltkriegs Millionen Fotos von den Orten, an die der Krieg sie führte, und von den Menschen, auf die sie trafen. Viele jener Fotos landeten in privaten Alben, wurden zum Andenken aufbewahrt oder als solche an Kameraden und Vorgesetzte verschenkt. Von der eigenen Führung ermuntert, schufen die Amateur-»Knipser« Kriegserinnerungen auf Fotopapier. Auf jene Weise eigneten sie sich die Fremde an und versahen sie mit Sinn.
Jüngst sind in Frankreich zwei Bildbände erschienen, die von deutschen Soldaten gemachte Fotografien präsentieren – darunter der hier anzuzeigende Band1. Dem Blick der Besatzer im Land der Besetzten Raum zu geben, könnte man als kleine Provokation verstehen2. Allerdings greift dies zu kurz, gibt es doch in Frankreich mittlerweile ein gesteigertes Interesse an der Wahrnehmung des Eigenen durch die Linse der Fremden im Kontext von Weltkrieg und Besatzung3.
Olivier Serra hat bereits 2014 einen Fotoband zur besetzten Normandie veröffentlicht4. Nun wurde der geografische Rahmen auf ganz Westfrankreich erweitert, worunter die Normandie, die Bretagne, das Departement Loire-Atlantique, die ehemalige Region Poitou-Charentes und der Norden der Region Aquitaine gefasst wurden. Das gewichtige Werk hat stattliche Ausmaße (28 cm x 25 cm). Die Fotos sind in guter Qualität wiedergegeben. Laut Autor handelt es sich um über 700 »photographies privées inédites«, bislang nicht veröffentlichte und unbearbeitete, von ihm gesammelte Aufnahmen aus Privatbesitz. Wer die jeweils konkreten Urheber der einzelnen Fotografien waren, erfährt der Leser nicht.
Fotos aus der frühen Phase der Besatzung sind überproportional häufig überliefert. Mit zunehmendem Fortschreiten der Okkupation sinkt – den Eindruck erweckt zumindest dieses Buch – die Zahl der Fotografien rapide. Der Aufbau des Bandes ist chronologisch. Beginnend mit Mai 1940 zeigt das erste und zugleich umfangreichste Kapitel Fotografien vom deutschen Vormarsch durch Frankreich. Neben Kampfszenen und Zerstörungen zeigen die Aufnahmen Plünderungen durch Soldaten, die stolz erbeutete Lebensmittel und Wein in den Händen halten. Der Inszenierungscharakter vieler Fotos fällt ins Auge. Einheimische posieren, vermutlich nur bedingt freiwillig, neben den deutschen Soldaten und suggerieren einträchtige Begegnungen. Um die Dynamik der Ereignisse motivisch festzuhalten, lehnt ein deutscher Kradmelder an einem französischen Verkehrsschild und gibt vor, die Soldatenzeitung »Der Durchbruch« zu studieren, die just den aktuellen Vormarsch propagandistisch in Szene setzt. Unfreiwillige Komik entsteht, wo das Konzert eines Spielmannszugs der Wehrmacht von einer unmittelbar passierenden Schafherde mit Nichtbeachtung quittiert wird. Dass sich die deutschen Soldaten nicht erst während der Besatzungsjahre in die Fremde einschrieben, zeigt das Foto eines von Soldatenhand gemalten Wandbilds in Boulogne-sur-Mer, einem der Häfen der britischen Evakuierungsaktion in der »poche de Dunkerque«, welches den deutschen Übergang über die Maas im Mai 1940 verewigte.
Im zweiten Kapitel, das der Autor nicht ganz trennscharf vom vorhergehenden Abschnitt absetzt, wird die Zeit bis Ende 1940 behandelt. Hier beginnt die eigentliche Besatzung mit der Einrichtung der Kommandanturen und dem Ausbreiten in den requirierten Örtlichkeiten. Dienststellen als zentrale Orte der Okkupation sind zahlreich wiedergegeben. Die Transformation von Gebäuden sowie des Lebens vor Ort findet sich im abgelichteten Kirchgang der Feldgrauen ebenso wie in den aufgestellten deutschen Wegweisern oder den Konzerten der Militärkapellen. Die sich entwickelnde Routine unterstreichen die angepinselten Öffnungszeiten der örtlichen Kommandantur. Die zur Truppenunterhaltung neu eingerichteten Soldatenheime bildeten Amalgamierungen von Heimat und Lokalem in der Fremde.
Noch stärker hervorgehoben wird die Manifestation deutscher Präsenz durch die Auswahl der Bilder im Kapitel zum Jahr 1941. Die Orte, in denen sich die deutschen Besatzer eingerichtet hatten, also neben der Kommandantur und den Soldatenheimen vor allem die große Zahl von Unterkünften, angefangen bei requirierten Privathäusern bis hin zu herrschaftlichen Anwesen, weisen durch ihre Umnutzung und entsprechende Kenntlichmachung auf die Transformation hin, die Frankreich mit der Besatzung erlebte. Auch die Okkupation des öffentlichen Raums, die performative Präsenz der Besatzungssoldaten durch ihre Aktivitäten wie Sportveranstaltungen, die immer wieder in der Ortsmitte stattfindenden Konzerte der Musikkorps, die als Machtdemonstration veranstalteten Paraden sowie die zelebrierten Festtage werden auf den Fotografien als Zurschaustellungen der deutschen Dominanz sichtbar. Wie stark auch die Neuordnung von Räumen als Affirmation der Herrschaft die Besatzung begleitete, zeigen die Fotos posierender Soldaten vor dem sogenannten »Negerviertel« in Bordeaux. Zum Gefahrenherd erklärt – ähnlich wie das im Februar 1943 gesprengte Quartier du Vieux-Port in Marseille – war dort Angehörigen der Wehrmacht der Zutritt verboten.
Die insgesamt sehr knapp ausfallenden Kapitel zu den Jahren 1942 bis 1944 bieten motivisch kaum Neues. Die Dynamik der Okkupation, die 1943 eine andere war als noch zu Beginn, wird durch die Fotoauswahl kaum gespiegelt. Zum Abschluss werden, warum auch immer, Fotos zurückgelassener deutscher Objekte gezeigt, Hinterlassenschaften der Besatzung in Form von Feldkisten und Stahlhelmen. Lediglich ein Bild zeigt die Fotoalben, aus denen die einzelnen Fotografien mutmaßlich entnommen sind. Es ist beinahe schade, dass der Leser – oder besser: Betrachter – nicht mehr Fotos in ihrem Überlieferungskontext zu sehen bekommt, denn gerade unter dem Blickwinkel der Erinnerung wäre interessant gewesen, wie die Fotos angeordnet und beschriftet, sprich mit Sinn versehen worden sind.
Obwohl die Bildunterschriften bei abgebildetem Kriegsgerät gelegentlich in die technische Fachsimpelei abdriften, zeugen sie von der Sachkenntnis des Autors. Dieser Eindruck wird auch durch kleine Fehler (auf einem Foto ist ein Soldatenheim abgebildet, wird aber als Kommandantur bezeichnet) nicht getrübt. Zwar sind die Fotos nicht systematisch nach Orten aufgeführt, doch hilft hier ein Ortsregister im Anhang. Allerdings beziehen sich etliche Ortsnamen auf die nachträgliche Kennzeichnung auf der Rückseite der Fotos durch die Soldaten selbst, daher sind falsche Zuschreibungen nicht auszuschließen.
Das Vorwort verspricht Einblicke in den Alltag der Soldaten. Davon kann, wenn überhaupt, nur bedingt die Rede sein, denn, wie der Autor selbst richtig bemerkt, war der Zweck der Bilder vor allen Dingen, die Angehörigen der Soldaten zu beruhigen. Es kann allenthalben von einer Inszenierung von Alltag die Rede sein. Vieles bleibt durch die abgebildeten Fotos im Dunklen. Zu Gewalt, Repression und vielen anderen Themen schweigt die Bildauswahl. Und nicht selten gewinnt man den Eindruck, dass die Fotopraxis der Amateurfotografen von jener der Propagandakompanien gar nicht so stark abwich5.
Dennoch ist ein solcher Bildband wichtig, denn er stellt diese besonderen Quellen der Öffentlichkeit zur Verfügung. Das kritische »Lesen« der Bilder versteht sich dabei von selbst. Es lassen sich durchaus Fragen mit diesem Quellentypus beantworten, so zum Beispiel nach der performativen Erzeugung von Sichtbarkeit und Präsenz der Deutschen in Frankreich. Damit belegen die Fotos die Selbstinszenierung der Besatzer qua zur Schau gestellte Aneignung.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Byron Schirbock, Rezension von/compte rendu de: Olivier Sierra, L’Ouest occupé. 1940–1944. Photographies privées inédites. Préface de Rémy Desquesnes, Bayeux (OREP Éditions) 2017, 432 p., nombr. ill. en n/b et coul. , ISBN 978-2-8151-0341-1, EUR 45,00., in: Francia-Recensio 2018/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45931