Hans Wollers Mussolini-Biografie bildet den Auftakt der vom Institut für Zeitgeschichte neu eingeführten Schriftenreihe »Diktatoren des 20. Jahrhunderts«, die vom Autor gemeinsam mit Thomas Schlemmer und Andreas Wirsching herausgegeben wird. Warum noch eine Mussolini-Biografie? Weil er, wie Woller betont, das »›Katastrophenzeitalter‹, das 1945 zu Ende ging, wie wenige andere« prägte (S. 10). Und, weil es der Geschichtswissenschaft auch heute noch schwerfällt, das Geflecht aus Legenden, ganz gleich, ob sie der Verharmlosung oder Verteufelung des Diktators dienen, zu entwirren und das aus zweierlei Gründen. Zum einen wegen des von Mussolini selbst ins Leben gerufenen und von seinen Bewunderern damals wie heute propagierten »Duce«-Kults, der seine Person zur charismatischen, religiös überhöhten Führungsfigur stilisierte. Zum anderen, weil in Italien bis heute keine systematische Aufarbeitung des Faschismus stattgefunden hat und die Rolle Mussolinis allzu gerne durch den Verweis auf den »großen Teufel« Hitler relativiert wird, und das nicht zuletzt, um das nationale Gewissen zu beruhigen. Woller, Experte auf dem Gebiet der italienischen Zeitgeschichte und insbesondere der Geschichte des italienischen Faschismus, will mit seinem Buch den »Mythos Mussolini« dekonstruieren und ein Bild des realen »Duce« zeichnen, privat ebenso wie politisch.
In elf Kapiteln, die jeweils mit Datum und Ort eines prägenden Ereignisses überschrieben sind, arbeitet der Autor in chronologischer Reihenfolge die verschiedenen Gesichter Mussolinis heraus. Zunächst den »totalitären Sozialisten« (Kapitel 2), der mit seiner Rede am 8. Juli 1912 auf dem Parteitag des Partito Socialista Italiano in Reggio Emilia sein Charisma unter Beweis stellte und den revolutionären Kräften innerhalb der Partei zum Sieg verhalf. Dann den »Faschisten« (Kapitel 3), der sich durch den inszenierten »Marsch auf Rom« am 28. Oktober 1922 an die Spitze der Macht katapultierte. Anschließend den »Diktator« (Kapitel 4), der das fehlgeschlagene Attentat auf ihn in Bologna am 31. Oktober 1926 zum Anlass nahm, das alte politische System endgültig abzuschaffen und eine Ein-Mann-Diktatur zu errichten. Außerdem den »Imperialisten« (Kapitel 5), dessen Truppen am 5. Mai 1936 in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba einmarschierten und somit das Horn von Afrika vollends unter italienische Kontrolle brachten. Schließlich den »Rassisten und Antisemiten« (Kapitel 6), dessen am 17. November 1938 in Rom erlassenes Gesetz zum »Schutz der italienischen Rasse« den vorläufigen Höhepunkt der antijüdischen Repressionspolitik in Italien bildete.
Besonders intensiv beleuchtet Woller auch Mussolinis Rolle als »Verbündeter Hitlers« (Kapitel 7) nach der Unterzeichnung des »Stahlpakts« am 22. Mai 1939 in Berlin, der die zweieinhalb Jahre zuvor vom »Duce« proklamierte »Achse« Berlin–Rom auf eine neue Stufe stellte. Wie die »Fassade ungestörter ›Achsen‹-Harmonie« (S. 213) aber sehr schnell zu bröckeln begann und bald nur noch mit Mühe aufrechterhalten werden konnte, zeigt Woller ebenso auf wie die allmähliche Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb des Bündnisses. War Mussolini der ebenbürtige Partner als der er sich selbst sah oder verkam er, ohne es zu merken, mehr und mehr zur Marionette des »Führers«? Woller vereint beide Sichtweisen und vollzieht die Entwicklung Mussolinis vom anfänglichen »Profiteur der ›Achse‹« (Kapitel 8) nach dem Kriegseintritt Italiens am 10. Juni 1940 hin zum Getriebenen seiner Großmachtfantasien nach, was ihn immer abhängiger von seinem deutschen Vertragspartner machte.
Der weit verbreiteten Wahrnehmung Mussolinis als Hitlers harmloser Bruder stellt Woller die Bilanz seiner Schreckensherrschaft entgegen und zeigt, dass Mussolini seinem »großen Bruder« in vielerlei Hinsicht in Nichts nachstand. Als »Erfinder« des Faschismus war er der ideologische Ziehvater Hitlers gewesen, der in ihm anfangs sein politisches Vorbild sah (S. 134). Analog zu Hitlers Vision vom »Lebensraum im Osten« träumte der Imperialist Mussolini vom »Lebensraum im Süden« (S. 131). Unter ebenjener Prämisse führte er mit dem Eroberungskrieg gegen Äthiopien 1935–1936 die »blutigste kriegerische Auseinandersetzung nach dem Ersten Weltkrieg« (S. 148) und machte das ostafrikanische Land durch eine hochtechnisierte Kriegführung zum Experimentierfeld für den Zweiten Weltkrieg.
Sein Hass auf die Juden war weder ein »deutscher Import« noch durch den Bündnispartner oktroyiert, sondern er entsprach tief verwurzelter Überzeugung (S. 166). Auch wenn »der Faschismus niemals die Grenze zum Mord« überschritt und »Vertreibung statt Vernichtung« die Losung Mussolinis war (S. 172), trug dieser ab 1942 in hohem Maße dazu bei, die »Endlösung der Judenfrage« voranzutreiben. Ohne Skrupel willigte er ein, die jüdische Bevölkerung aus italienischen Besatzungsgebieten zu internieren und anschließend an die Deutschen auszuliefern, was der Genehmigung des Massenmords gleichkam (S. 236). Gleichzeitig verschärfte er aus freien Stücken die Situation im eigenen Land, wo ab Juni 1943 alle erwachsenen Juden in Konzentrationslager eingewiesen und zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden (S. 239). Woller verweist ebenfalls auf die Ähnlichkeiten in der Kriegführung, die im Fall Mussolinis zwar nicht auf einen Vernichtungskrieg ausgerichtet war, sich teilweise aber de facto dazu ausweitete (S. 234).
Wie Woller in der Einleitung betont, ist es nicht Ziel des Buches, »eine Gesamtbiografie Mussolinis zu liefern, die ausschließlich für das Fachpublikum geschrieben ist« (S. 10). Inhaltlich geht es vielmehr darum – und hier sei nochmals auf den Titel der Reihe, in der die Biografie erschienen ist, verwiesen – die historische Persönlichkeit vor dem Hintergrund der von ihr geführten Diktatur herauszuarbeiten. Formal entspricht der Duktus des Buches dem Vorsatz, auch den historisch interessierten Laien in den Adressatenkreis aufzunehmen. Positiv hervorzuheben ist vor allem die Prägnanz in der Formulierung und ein hohes Maß an Anschaulichkeit, das sowohl in sprachlicher Hinsicht als auch durch zahlreiche Abbildungen erreicht wird. »Groß sind die Fragen, die sich auf diese Jahrhundertgestalt beziehen« (S. 9), konstatiert Woller eingangs – er begegnet ihnen, indem er versucht, sie in kleinen Schritten zu beantworten, wodurch ein vielschichtiges und deshalb nicht selten ambivalentes Bild des »ersten Faschisten« entsteht.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Manon Lorenz, Rezension von/compte rendu de: Hans Woller, Mussolini. Der erste Faschist. Eine Biografie, München (C. H. Beck) 2016, 397 S., 27 Abb. (Diktatoren des 20. Jahrhunderts), ISBN 978-3-406-69837-8, EUR 26,95., in: Francia-Recensio 2018/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45932