Als Impuls für eine »umfassende intellektuelle Biographie« war die Potsdamer Tagung gedacht, Formeys »verschiedene Tätigkeitsfelder« sollten zusammen geführt werden, und ein gewichtiger Beitrag eröffnet den Band: »Der Sekretar der Akademie«. Für das Fehlen vieler Unterlagen im Archiv, klagt der ehemalige Leiter W. Knobloch, sind Maupertuis und Formey verantwortlich, die führenden Repräsentanten, die zwischen dienstlicher und privater Korrespondenz nicht trennten, sodass die Nachlässe nach ihrem Tode wahre »Odysseen« erlebten. Ein bislang unbekannter Brief vom 19.5.1745, mit einem Programm zur Publikation der Akademieabhandlungen, bewirkt Formeys prompte Bestallung zum Historiografen durch das Kuratorium. Es ist die entscheidende Weichenstellung seiner Laufbahn, für die er in seinen Erinnerungen Jordan, den Vizepräsidenten und Vertrauten Friedrichs danken wird, der ihm vor seinen Tod beraten haben dürfte. Die Sitzungsprotokolle von 1746–1786, Formeys opus magnum und seit 2012 online verfügbar, sind abschließend in ihrer Bedeutung gewürdigt.

Weniger überzeugt im Teil »Institutionen des Wissens« der Beitrag »Formey als Enzyklopädist«. Die Aussage: »Formey liefert […] seit der Mitte des 18. Jahrhunderts jahrelang Artikel […] für die ›Encyclopédie‹« (S. 51) ist chronologisch unhaltbar und inhaltlich fragwürdig. Seine für ein eigenes »Dictionnaire philosophique« geschriebenen Artikel hat er 1747 dem Pariser Projekt zur Verfügung gestellt, als Diderot noch gar nicht Leiter war. Wenn er 1749 und 1750 Gegenschriften zu Diderots »Pensées philosophiques« und die »Lettre sur les aveugles« publiziert, ist das nur ein Widerspruch, wenn seine Anfänge ausgeblendet bleiben. Die erste größere Arbeit, die ihn bis 1740 beschäftigt hat, war ein lesbarer »Abrégé« des unförmigen »Examen du pyrrhonisme«, den der Lausanner Philosoph Crousaz 1734 vor allem gegen Bayles Skeptizismus veröffentlicht hatte und der zuerst 1751 in der Übersetzung Hallers erschien. Welche Spuren dieser Ausgangspunkt und sein Wolffianimus in den abgetretenen Artikeln hinterließen, wäre zu prüfen. Trotz der in der Einleitung skizzierten Konzeption ist Formey als Theologe und als Philosoph aber nicht behandelt.

Von der Netzwerkidolatrie geprägt ist der Teil II, in dem Ausschnitte aus dem Nachlass vorgeführt werden. Annelie Große will die Auseinandersetzung mit Diderot, Voltaire und Rousseau sozialgeschichtlich als Selbstinszenierung zur Prestigesteigerung verstehen. Dass Formey dabei die eigene Überzeugung und die in Deutschland vorherrschende Ansicht vertritt, wird nicht zur Kenntnis genommen. Das Hauptargument, »die unerlaubte Veröffentlichung« (S. 100) von Rousseaus Verteidigung der Vorhersehung 1756 in einem Brief an Voltaire, projiziert spätere Rechtsvorstellungen und sticht nicht. Die Erstausgabe war von Voltaires Verlegern in Genf gedruckt, der Text 1759 »publici juris«. Anne Baillot berichtet über die »Geschichte einer jungen hübschen Französin« (S. 113), eine 1775 als fünfzehnjährige mit Liebhaber aus Frankreich nach Preußen geflüchtete Nonne, die später mit Jean Paul korrespondierte. Die von Formey erbetene Unterstützung einer Familie in Breslau endet in einer »Katastrophe«, die unklar bleibt. Willkürlich ist unter das Thema »Unterstützung« auch Formeys Beziehung zu L. de Beausobre gestellt, ein ehemaliger Schüler und späterer Akademiekollege. Die zugehörigen Briefe der Varnhagen-Sammlung werden nicht beachtet, da es um Vernetzung, nicht um Erkenntnis einer Teilkorrespondenz geht. So lässt sich mancherlei vermuten, zumal wenn nur Formeys Nachruf herangezogen wird, nicht Beausobres fünf gedruckte und Baumgarten verpflichtete Akademieabhandlungen, was auch für dessen Brief an Beausobre von 1759 gilt, der seit 2006 in der DVLG gedruckt vorliegt.

Weniger kritisch sind die beiden anderen Beiträge zu sehen. Emmanuelle Chaze handelt über den Briefwechsel mit Pérard, Hofprediger in Stettin, der einige Jahre mit Formey für die Fortsetzung der »Bibliothèque germanique« verantwortlich war. Pérard hat diese Herausgebertätigkeit und eine ausgebreitete Korrespondenz die Mitgliedschaft mehrerer gelehrter Sozietäten eingebracht. Doch andere Publikationen fehlen, es bleibt nur ein ungewöhnlicher Lebensweg. Susanne Lachenicht, durch vergleichende Studien zu Migration und Integration in der Frühen Neuzeit ausgewiesen, handelt über Formeys Bedeutung für die hugenottische Diaspora. Sie kann aus der Pastorenkorrespondenz schon für 1753 und 1754 die ersten Auflösungserscheinungen nachweisen. Der unmittelbare Bezug auf Formeys »Lettres sur la prédication« von 1753 ist leider nicht gesehen, eine Schrift, die ihn der deutschen Aufklärungstheologie zuordnet. Spalding, einer ihrer führenden Köpfe, äußert bewundernd gegenüber Gleim: »Wenn doch alle Geistlichen so viel Herz hätten, Missbräuche zu tadeln, Missbräuche aller Art, in den Ceremonien, in dem Gottesdienst.«

Die Beiträge des letzten Teils, »Intellektuelle Spannungsverhältnisse« betitelt, beleuchten die Auseinandersetzung mit Rousseau. Die Herausgeber behandeln »Formeys ›Émile Chrétien‹ im Kontext europäischer Erziehungsdebatten im 18. Jahrhundert, Simone Austermann »Formeys ›Anti-Émile‹ als Teil des Emil-Diskurses«, Cordula Neiss »Formeys ›Discours sur l’origine des sociétés et du langage et sur le sytème de la compensation‹ (1763) im Kontext der Berliner Debatte um den Sprachursprung«. So richtig das Bemühen um Einordnung in die zeitgenössischen Debatten ist, völlig offen bleibt, ob Formey nun der französischen oder der deutschen Aufklärung zugehört, was zu deutlich verschiedenen Wertungen führt. Erscheint seine Haltung zum Sprachursprung »geradezu reaktionär« (S. 181), gemessen an »den Postulaten eines Maupertuis, Condillac oder Rousseau«, »repräsentiert« er beim Vergleich mit deutschen Stellungnahmen zum »Émile« »oft den Mainstream der Aufklärungspädagogen« (S. 149). Solange dieser Deutungsdualismus nicht bewusst gemacht und überwunden ist, wird Formey voller Widersprüche bleiben.

Das auffällige Fehlen einer Biografie hat sicher mit seiner enormer Produktivität zu tun. Doch ließe sich nicht fragen: Welche Texte waren die zentralen und welche nur Neben- oder Auftragsarbeiten? Von einem solchen Herangehen halten die Herausgeber wenig: »Wichtiger als die Frage, ob er mit seinen intellektuellen Positionen eigene Akzente setzen konnte«, sei die Funktion als »Knotenpunkt« im Netz der Wissensvermittlung (S. 19f.). Doch auch bei Formey wird sich eine intellektuelle Physiognomie nicht ermitteln lassen, ohne auf seine ersten Gehversuche zu blicken. Eine Art von Visitenkarte muss er in einigen Monaten der »Amusemens littéraires, moraux et politiques« von 1738 gesehen haben, die einzige seiner Zeitschriften, von der eine überarbeitete Ausgabe erschien. Neben einer Besprechung zu Voltaires »Élements de la philosophie« de Newton findet sich ein Abriss zu Leben und Werk von Leibniz, gekennzeichnet als Auszug aus Ludovicis Schrift »Ausführlicher Entwurff einer vollständigen Historie der Wolffischen Philosophie«, dem ein »Abrégé de la Philosophie de M. Wolff« folgen soll. Formey beherrscht also die Sprache des Gastlandes und erkennt als eine Aufgabe, sich für deutsche Philosophie zu engagieren. Und er hat auch eigene Gedanken anzubieten, »Réflexions sur l’éducation«, eine geharnischte Kritik an der Vernachlässigung des Adelsnachwuchses in Preußen. Spalding hat sich noch im gleichen Jahr 1739 auf das »Urteil eines neuen Schriftstellers« berufen, »der überhaupt von der Erziehung sehr artige und gründliche Gedanken hat. Er will, dass man auch für den Verstand des jungen Frauenzimmers sorgen soll«. Für die Auseinandersetzung mit Rousseau existiert also eine Vorgeschichte, die Beachtung verdiente.

Die Zeit für eine umfassende Biografie scheint noch nicht gekommen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Martin Fontius, Rezension von/compte rendu de: Jannis Götze, Martin Meiske (Hg.), Jean Henri Samuel Formey. Wissensmultiplikator der Berliner Aufklärung, Hannover (Wehrhahn Verlag) 2016, 188 S. (Aufklärung und Moderne, 36), ISBN 978-3-86525-547-1, EUR 22,80., in: Francia-Recensio 2018/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.1.46312