Nein, Langeweile kommt bei Franck Collard nicht auf, ist er doch Historiker des Gifts und der Leidenschaft. Seit seinem Werk »Le crime de poison au Moyen Âge«1 greift er immer wieder das Problem des Einsatzes von Gift in der Welt des Spätmittelalters, vor allem im 15. Jahrhundert, auf; einem Saeculum, in dessen erster Hälfte – zumal in einem im Innern zerrissenen und vom Hundertjährigen Krieg heimgesuchten Frankreich – ebenso das Thema der »passions« eine zentrale Rolle spielt, dem er bereits 2015 die Studie »Politique des passions et anthropologie des pulsions à la cour de Charles VII«2 widmete . Eine Annäherung an Jeanne d’Arc unter solches Vorzeichen zu stellen lag nahe, einmal aufgrund besagter »passions au sens de déchirements« im Königreich, sodann angesichts von Johannas »passion au sens d’exaltation affective et d’amour extrême« wie auch – mit Blick auf ihren Prozess und Tod in Rouen – wegen ihrer »passion … au sens de souffrance sacrificielle« (S. 11).

Davon handelt Collard im ersten Teil seines Buchs. Im zweiten thematisiert er unter dem Titel »Jeanne d’Arc au miroir des passions françaises« all die Leidenschaften und mit Leidenschaft geführten Auseinandersetzungen, welche die Pucelle bei Anhängern und Gegnern bis in die Gegenwart hinein auslöste. Und ebendieses Leitmotiv rechtfertigt, so der Autor, »encore un livre sur Jeanne d’Arc« (S. 7), in dem er dann solcher Linie beharrlich folgt, wenn auch das Thema »passion(s)« vom 15. bis ins 20. Jahrhundert selbstredend nicht von gleichbleibender Intensität war. (Für unsere Zeit sieht Collard angesichts der Erosion traditioneller religiöser und politischer Werte in der Jungfrau gar nur noch »une vague référence un peu surannée« (S. 247). Doch will da nicht ein anderes, allein in diesem auf Frankreich fokussierten Buch unbehandeltes Thema, nämlich ihre heute weltweite, durch millionenfache Google-Einträge unterlegte, von Mangas bis zur Popmusik reichende mediale Präsenz als »global magical girl« berücksichtigt sein?)

Das Vorgehen des Autors ist, wie gesagt, konsequent, indes nicht unbedingt neu; so widmete sich etwa 1997 eine Sondernummer von »L’Histoire« ganz dem Thema »Jeanne d’Arc. Une passion française«. Wie überhaupt das Werk nicht mit grundstürzend neuen Einsichten überrascht, was bei einer seriösen Darstellung von Johannas Leben und Wirken wohl auch kaum mehr zu erwarten steht. Vielmehr wird eine das Motiv der »passion(s)« in den Vordergrund stellende – und manche Einzelheiten dabei schon aufgrund des beschränkten Umfangs aussparende – Darstellung auf der Höhe heutiger Forschung geboten, ohne dass diese im Anmerkungsapparat explizit ausgewiesen würde.

Dieser ist, wie auch das Literaturverzeichnis, recht knapp gehalten; lediglich im Text wörtlich zitierte Quellen finden sich des Öfteren belegt, während, um nur ein Beispiel anzuführen, in den stark auf Arbeiten von Gerd Krumeich beruhenden Ausführungen über eine Jeanne d’Arc im Widerstreit der Parteien des langen 19. Jahrhunderts (dazu übrigens S. 246: »Le siècle de Michelet et de Dupanloup se déchire autour de la Pucelle«) dessen Name nie auftaucht. Wer hierzu, vor allem zum zweiten Teil, genauere Referenzen wünscht, sei auf eine eigene Studie verwiesen3.

Collards Darstellung tendiert also in Richtung »haute vulgarisation«, lässt aber für mit der Materie Vertraute auch immer wieder eigene Akzente aufscheinen, ob es etwa um die Relevanz des Remigiuskults (S. 33), die Deutung von Johannas Erhebung in den Adelsstand (S. 95), die stillschweigende Billigung ihrer Kampagne im Frühjahr 1430 durch Karl VII. (S. 97), um Indizien für Bemühungen des Königs zu ihrer Befreiung aus burgundisch-englischer Gefangenschaft (S. 107 u. ö.) oder um die Wiederherstellung der Ehre Johannas und ihrer Familie, aber auch des Königs als zentrales Motiv für den Rehabilitations- bzw. Nullitätsprozess (S. 166, 168f.) geht.

Auch kritische Akzente beim Blick auf die Forschung fehlen nicht; so dürfte die Feststellung »Il y a trop d’audace à faire de la condamnée de 1431 un alter Christus au féminin« (S. 150) unter anderem auf eine ansonsten geschätzte Kollegin (und Vorgängerin des Verfassers an der Universität Paris-Nanterre) zielen4. Mithin kommen auch Vertreter der universitären »histoire établie« (vgl. dazu S. 241) bei der Lektüre auf ihre Kosten, was indes für das anvisierte breitere Publikum in einem Punkt nicht gilt: das Fehlen jeglicher Abbildung in einem immer wieder auf Gemälde, Statuen, Skulpturen, Plakate etc. rekurrierenden zweiten Teil ist schon misslich; die Mythografie bedarf der Anschauung.

Mit den meisten Einschätzungen und Wertungen des Guenée-Schülers Collard dürfte besagte »histoire établie« konform gehen, und dies zu Recht, denn sie beruhen auf guter Kenntnis der Materie. Lediglich die letzten Seiten durchzieht – wohlgemerkt nach meinem Dafürhalten – ein Hauch von Bekenntnischarakter, der Schlusssatz erinnert gar an einen Besinnungsaufsatz aus Schulzeiten. Zitiert sei er hier nicht, denn Leserinnen und Leser dieser Besprechung mögen, neugierig geworden, vielmehr (nicht nur) einen Blick ins Buch selbst werfen. Denn er lohnt sich durchaus, wie aber auch ein solcher in die wenige Monate zuvor erschienene Biografie Karls VII. von Philippe Contamine lohnt, die, selbst wenn Jeanne d’Arc darin nicht in einem eigenen Kapitel thematisiert wird, ebenso ausführlich wie meisterhaft von der Pucelle handelt . Es bleibt im Übrigen abzuwarten, welche Akzente Collard in seinem angekündigten Werk über ebendiesen Herrscher setzen wird. Nach dem hier angezeigten Buch und seiner eingangs erwähnten Studie würde eine neuerlich »passionierte« Sicht nicht überraschen.

1 Franck Collard, Le crime de poison au Moyen Âge, Paris 2003 (Le Nœud gordien); siehe auch: ders., Pouvoir et poison. Histoire d’un crime politique de l’Antiquité à nos jours, Paris 2007; ders., Les écrits sur les poisons, Turnhout 2016 (Typologie des sources du Moyen Âge occidental, 88). Für deutschsprachige Leserinnen und Leser von besonderem Interesse: ders., Gifteinsatz und politische Gewalt. Die Semantik der Gewalt mit Gift in der politischen Kultur des Mittelalters, in: Martin Kintzinger u. a. (Hg.), Gewalt und Widerstand in der politischen Kultur des späten Mittelalters, Ostfildern 2015 (Vorträge und Forschungen, 80), S. 319–344.
2 Franck Collard, Politique des passions et anthropologie des pulsions à la cour de Charles VII, in: Bernard Andenmatten u. a. (Hg.), Passions et pulsions à la cour. Moyen Âge – Temps modernes, Florenz 2015 (Micrologus Library, 68), S. 73–92.
3 Heribert Müller, Jeanne d’Arc, in: Johannes Fried, Olaf B. Rader (Hg.), Die Welt des Mittelalters. Erinnerungsorte eines Jahrtausends, München 2011, S. 276–291, 511–515.
4 Colette Beaune, Jeanne d’Arc, Paris 2004, S. 385: »La nouveauté était … qu’une femme osât s’approprier le rôle du saveur.« Wobei Beaune wohlgemerkt nicht in der Tradition jener johanneischen Passionspanegyriker vom Schlage des unseligen Jesuiten Jean-Baptiste Ayroles (1828–1921) steht, denen in einem jüngst erschienenen merkwürdigen Dictionnaire encyclopédique de Jeanne d’Arc, hg. von Pascal-Raphaël Ambrogi, Dominique Le Tourneau, Paris 2017, breiter Raum gewährt wird. Ich will darauf demnächst in anderem Kontext eingehen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Heribert Müller, Rezension von/compte rendu de: Franck Collard, La passion Jeanne d’Arc. Mémoires françaises de la Pucelle, Paris (Presses universitaires de France) 2017, 272 p., ISBN 978-2-13-063351-8, EUR 19,00., in: Francia-Recensio 2018/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.2.48298