Reiseberichte sind keine neue, aber immer wieder eine unerschöpfliche Quelle unseres Wissens über zahlreiche Bereiche des Lebens, der Wahrnehmung und des Wissens, hier des Spätmittelalters. Die Forschung hat im Laufe der Zeit schon viele Fragen gestellt und Antworten erhalten zu Praxis und sozialen Bedingungen des Reisens, zu Fremdheitserfahrung und Selbstspiegelung, zu Individualität und Topik, zu Weltwissen, Neugier, Konzeptionen von Weltreligionen und von anderen Christentümern.

Anzuzeigen ist hier die Edition des Berichts des flandrischen Kaufmanns Jean de Tournai aus Valenciennes, der ein Jahr lang zwischen dem 25. Februar 1487 und dem 7. März 1488 die drei großen und zahllose kleinere Pilgerziele der lateinischen Christenheit bereiste. Der Bericht ist in einer Handschrift zusammen mit zwei weiteren zeitgenössischen Pilger- bzw. Reiseberichten aus derselben Region (Georges Lengherand, maire de Mons, von seiner Reise nach Italien und ins Heilige Land, und Eustache de la Fosse aus Tournai von seinen Fahrten an der afrikanischen Westküste um 1480) überliefert – und er stammt aus einer Zeit, in der zahllose Pilger aus unterschiedlichen sozialen Schichten mehr oder weniger individuell geformte Berichte in erster Linie über ihre Pilgerschaft nach Jerusalem und zu den heiligsten Stätten der Christenheit im Vorderen Orient verfassten und auch bereits zum Druck brachten – am Beginn einer Epoche also, in der Reiseberichte generell zum Verkaufsschlager werden sollten.

Die Edition, die vor allem zur Vervollständigung des Corpus der gedruckt zugänglichen Pilgerberichte dienen soll, ist mit einer knappen Einleitung und mit wenigen Kommentaren, wo Erklärungen nötig und möglich schienen, versehen; dazu kommen – neben einer sehr knappen Bibliografie (»Éléments de bibliographie«) – ein Glossar für die schwierigsten mittelfranzösischen Worte und ein Index der Personen- und Ortsnamen. Der Bericht enthält, so die Editorinnen, neben den üblichen, aber eigens kontextualisierten Topoi oft individuell erscheinende, in der Ich-Form niedergelegte Beobachtungen zu Politik und sozialen Beziehungen (so der Kurie), zur »Stadt« (anhand der großen christlichen Städte am Weg, wie Rom, Neapel, Venedig) und nicht zuletzt zu ökonomischen Verhältnissen (das Glossar enthält dementsprechend eine eigene Abteilung zu Münz- und Rechengeld).

Vor allem zur Geschichte der Religiosität hat der Bericht Interessantes beizutragen: Nicht nur reflektiert Jean im Heiligen Land über die Ausbreitung nichtchristlicher Völker in der Welt, ein Thema, das sehr viele seiner Zeitgenossen umtrieb, und nicht nur schildert er beim Besuch der diversen Heiligen die Ausstattung der Kirchen mit Altären und Bildnissen verschiedenster Art und den Kult der Heiligen. Besonders auffallend ist auch die den Editorinnen zufolge bemerkenswert intensive und vielfältige Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Liturgien, an denen sich Jean de Tournai in Italien und im Heiligen Land beteiligte. Die besonders für einen Laien außergewöhnliche Beschäftigung spiegelt zeitgenössische Laienfrömmigkeit, für die der Kontext der Devotio moderna vorgeschlagen wird (vier andere Pilgerberichte aus der Zeit, die an diesem Punkt vergleichbar sind, sind eigens im Quellenverzeichnis zum Vergleich aufgeführt).

Ausgestattet ist der Band zudem mit sechs Karen der Teil-Itinerare von Valenciennes über Trient nach Rom und Venedig, von dort ins Heilige Land, zurück nach Bari und über Rom, den Großen Sankt Bernhard und das Rhônetal nach Santiago, schließlich über Bordeaux und Paris zurück nach Valenciennes. Vorgelegt ist die wichtige Edition eines spannenden Textes, der auf dieser Grundlage sicher noch mehr von der Aufmerksamkeit, die er verdient und auch schon erhalten hat, bekommen wird.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Felicitas Schmieder, Rezension von/compte rendu de: Béatrice Dansette, Marie-Adélaïde Nielen (éd.), Le récit des voyages et pèlerinages de Jean de Tournai 1488–1489, Paris (CNRS Éditions) 2017, 386 p. (Sources d’histoire médiévale, 43), ISBN 978-2-271-11624-6, EUR 60,00. , in: Francia-Recensio 2018/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.2.48300