Die Bedeutung Quedlinburgs für die mittelalterliche Geschichte des heutigen Deutschland steht außer Frage. Unter den Ottonen wurde hier ein Zentrum königlicher Herrschaftsinszenierung errichtet, dessen Strahlkraft weit über das nähere Umfeld hinausreichte. Entscheidend war in diesem Zusammenhang das 936 gegründete Damenstift, wo sich die zentralörtlichen Funktionen Quedlinburgs gleichsam manifestierten und sich ein Mittelpunkt der Erinnerungskultur herausbildete. Bisher stand das Quedlinburger Frauenstift aber – anders als die entsprechenden Einrichtungen in Gandersheim und Essen – nicht im Mittelpunkt der Forschung, wodurch auch der Titel des vorliegenden Sammelbandes erklärt wird. Er enthält Beiträge der verschiedensten Fachrichtungen (speziell Geschichtswissenschaft, Archäologie und Kunstgeschichte), was bei dem komplexen Sujet sicher als angemessen bezeichnet werden kann.

Leider hat sich im Inhaltsverzeichnis ein kleiner Fehler eingeschlichen, da der letzte Aufsatz darin zweimal genannt wird. Das Vorwort der Herausgeber (S. 7–9) nimmt kurz auf die Entstehungsgeschichte der Publikation, eine Tagung in Quedlinburg (2015), Bezug und ordnet sie in den Forschungskontext ein. Wichtig ist hier zuvorderst die Feststellung, dass man das Ganze »als Initialzündung für weitere Tagungen am historischen Ort« (S. 8) verstanden wissen möchte. Es handelt sich bei diesem interdisziplinären Sammelwerk also gleichsam um eine Bestandsaufnahme und einen Auftakt zu weiteren Untersuchungen.

Die einzelnen Aufsätze wissen durchaus zu überzeugen. Pierre Fütterer legt in seinem Beitrag zur Verkehrsgeografie Quedlinburgs (S. 11–31) überzeugend dar, dass der Ort im Nordharzvorland – entgegen älteren Annahmen – verkehrsgünstig gelegen war. Tatsächlich lässt sich für diese Region »eine weit fortgeschrittene Raumerschließung und herrschaftliche Durchdringung« (S. 31) fassen, was zweifelsohne ein wesentlicher Faktor für die beeindruckende Entwicklung Quedlinburgs unter den Ottonen war. Die archäologische Situation von Stadt und Stift Quedlinburg dokumentiert (für das 10. bis 13. Jahrhundert) Tobias Gärtner. Der Autor zeichnet dabei ein eindrückliches Bild der Befunde in den verschiedenen Stadtteilen und liefert eine treffende Skizze der methodischen Voraussetzungen für eine Rekonstruktion der Siedlungsgeschichte. Allerdings endet der Beitrag etwas unvermittelt; zumindest ein Ausblick wäre – als Anknüpfungspunkt für zukünftige Analysen – wünschenswert gewesen. Die Relevanz Quedlinburgs für die dynastische Herrschaftsrepräsentation führt Stephan Freund anhand der Schriftquellen plastisch vor Augen. Er kann dabei zeigen, dass Quedlinburg auch noch lange nach dem Ende der ottonischen Dynastie für die herrschaftliche Gedächtniskultur, vor allem im Rahmen von Zeremonien, eine eminente Rolle spielte. Unter den Ottonen wurden hier also die Grundlagen für die folgenden Jahrhunderte geschaffen.

Der Rang des mittelalterlichen Quedlinburg lässt sich an zahlreichen weiteren Punkten ablesen. Zu nennen sind hier vornehmlich die Liturgie und die damit verbundene Schriftlichkeit (Katrinette Bodarwé, S. 87–109), ferner der Stuckdekor der Stiftskirche in der sogenannten »Confessio« (Elisabeth Rüber-Schütte, S. 111–131) sowie der berühmte Quedlinburger Domschatz (Hiltrud Westermann-Angerhausen, S. 133–163). Besonders hervorzuheben ist der Servatiusschrein, der in einem eigenen Aufsatz gewürdigt wird (Thomas Labusiak, S. 165–187). Auch in diesen eher kunsthistorischen Bereichen spielte die Gedenkkultur offensichtlich eine zentrale Rolle. An dieser Stelle seien die diversen, hochwertigen Fotografien lobend erwähnt, die den Band hervorragend illustrieren und die jeweiligen Ausführungen optimal ergänzen. Dass die Wichtigkeit Quedlinburgs für die dynastische Repräsentation sogar bis in die Frühe Neuzeit reichte, wird durch den abschließenden Beitrag zur Konkurrenz zwischen Wettinern und Welfen um das Reichsstift verdeutlicht (Clemens Bley, S. 189–211). Ein Register zu Namen, Orten und Kunstgegenständen schließt das Buch ab.

Insgesamt vermittelt die Neuerscheinung eine gute Vorstellung vom Stellenwert des mittelalterlichen (sowie frühneuzeitlichen) Quedlinburg und wird dem Anspruch, sowohl Fachleute als auch eine weitere Leserschaft anzusprechen, durchaus gerecht. Da sich das Werk bewusst als Beginn weiterer Forschungen versteht, darf man auf künftige Arbeiten zum Quedlinburger Stift gespannt sein. Dies umso mehr, als sich 2019 die Erhebung Heinrichs I. zum 1100. Mal jährt. Möglicherweise ist dann auch mit Überlegungen zur modernen Rezeptionsgeschichte der Ottonenzeit zu rechnen, insbesondere zur Instrumentalisierung des ersten ottonischen Königs während des Nationalsozialismus.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Stephan Ridder, Rezension von/compte rendu de: Stephan Freund, Thomas Labusiak (Hg.), redaktionelle Bearbeitung von Michael Belitz, Alena Reeb, Oliver Schliephacke, Das dritte Stift. Forschungen zum Quedlinburger Frauenstift, Essen (Klartext) 2017, 218 S. (Essener Forschungen zum Frauenstift, 14), ISBN 978-3-8375-1798-9, EUR 29,95., in: Francia-Recensio 2018/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.2.48308