Die Gradwanderung zwischen digitaler Welt und akademischer Seriosität ist eng. Das gilt insbesondere für den akademischen Unterricht und die Bildung engagierter Hobbyhistoriker. Wie ist die Streu vom Weizen zu trennen? Seiten von renommierten Projekten, wie sie etwa die Bayerische Landesbibliothek Online an der Bayerischen Staatsbibliothek anbietet, erfordern von ihren Benutzern und Lesern Vorwissen. Das gilt für das Lesen der Projektseiten wie für die Benützung der Begleittexte zu den online gestellten Quellen und insbesondere für Online-Quelleneditionen. Handelt es sich dabei gar um ein so extraordinäres Kulturdenkmal der Geschichte wie den »Cozroh-Codex«, das älteste Freisinger Traditionsbuch, dürfte schon die jedem Menschen innewohnende Intelligenz daran hindern, die online bereit gestellten Quellen als Steinbruch für eigene Ideen zu benützen und auszuschlachten – im vorliegenden Fall gar als gedachte Handreichung und Marktschlager für den akademischen Unterricht im englischsprachigen Raum.
Worum geht es? Das jüngste Buch von Carl I. Hammer ist der Versuch, eine der aus der Frühzeit der bayerischen Geschichte bekannten Siedlungskammern von Familiengruppierungen großflächig zu rekonstruieren, und zwar für die Huosi, die nur in einer einzigen Urkunde der Freisinger Traditionen genannt sind. Es handelt sich bei dieser Sippe um eine der fünf aus der »Lex Baioariorum« bekannten »Genealogiae«; die anderen vier tauchen namentlich im Traditionsbuch nicht auf. Ziel des Autors ist es, anhand von Dokumenten aus dem seit geraumer Zeit online zugänglichen »Cozroh-Codex« ein »Huosiland«, also eine von dieser Sippe angeblich großflächig beherrschte Landschaft zwischen Lech, Donau, Isar und dem südlichen Alpenvorland darzustellen.
Bei diesem Konstrukt fehlt die Reflexion des grundlegenden Aufsatzes von Ludwig Holzfurtner, Pagus Huosi und Huosigau, in: Andreas Kraus, Land und Reich, Stamm und Nation, München 1984, S. 287–324; er hat hierin die Urkunden mit Huosi-Nennungen genau analysiert und den Forschungsstand – zurückgehend bis auf Sigmund Riezler u. a. – erläutert. In dieser Studie, in der zunächst die verschiedenen tradierten Möglichkeiten von Pagus-Nennungen im Frühmittelalter und deren Wandel und Vermischung im Hochmittelalter erläutert werden, sind am Ende die wenigen Orte kartiert, die nachweislich von Mitgliedern der Huosi-Sippe besiedelt waren; es handelt sich dabei um die schon lange in der Forschung bekannten Nachbarorte Jesenwang und Landsberiet, nördlich des Ammersees, den Ort Tandern – zwischen den Klöstern Altomünster und Ilmmünster –, Haushausen, nördlich von Ilmmünster, und einen Ort Berg, vermutlich am Starnberger See zu lokalisieren oder südlich des Ammersees.
Ein Einflussbereich oder gar ein »Huosiland« südlich der kleinen Kernzone Jesenwang/Landsberiet und Tandern, zwischen Isar und Lech bis in den Raum des Klosters Scharnitz ist Fiktion. Gerade das aber will Hammer nun mit seinem Buch als gegeben darlegen. Dieser gesamte, gut besiedelte Raum des Augstgaues ist natürlich in den Freisinger Traditionen topografisch und demografisch belegt; allerdings handelt es sich dabei nicht um eine Adelssippe; aufgrund der Gleichnamigkeit von Personen wurden nämlich seit Langem verschiedene Personen fälschlicherweise als eine Person angesehen oder falsch identifiziert; so wurde etwa der Gründer des Klosters Scharnitz Reginpert mit dem gleichnamigen Abt von Moosburg an der Isar identifiziert und vieles mehr. Hammer argumentiert aus historisch-militärischer Perspektive und möchte im »Huosigau« einen von Karl dem Großen ab den Awarenzügen errichteten militärischen Pagus sehen.
Vieles wird aus der gängigen Literatur zur Geschichte der Franken zusammengetragen, doch fehlt die Erklärung, weshalb summarisch ein Siedlungsraum komplett nach einer Genealogie der »Lex Baioariorum« benannt wird und von dieser angeblich beherrscht wurde. Hat doch schon Wilhelm Störmer in einem separaten Kapitel seines Buches »Früher Adel: Studien zur politischen Führungsschicht im fränkisch-deutschen Reich vom 8. bis 11. Jahrhundert«, Bd. 1 (1973) darauf verwiesen, dass die Bezeichnung »Pagus« in den Freisinger Traditionen meist einen kleinen Siedlungsraum von zwei oder drei Orten meint, welcher von einer Sippe bewohnt und bewirtschaftet wurde. Auch wenn wir den »Huosigau« als Sonderfall ansehen, so ist doch zu konstatieren, dass damit keinesfalls der gesamte Lechrain von der Isarmündung bis in den Scharnitzer Raum gemeint war.
In der Einleitung weist der Verfasser kurz auf die Möglichkeit hin, den Codex und die Edition der Freisinger Traditionsurkunden von Theodor Bitterauf (1905) nunmehr auch online benützen zu können, und er erwähnt seine Vorstudie zu »Huosiland«, die er als Student in Toronto 1970 geschrieben habe. Diese Vorstudie mit den englischen Übersetzungen einzelner Urkundentexte aus den Freisinger Traditionen wurde nun von ihm bearbeitet und anhand der digital zugänglichen Quellentexte unterfüttert und erweitert. Die Übersetzungstexte bilden als »Part 4. Translations: Sources for Huosiland«, S. 94–238, den Hauptteil und sollen als Unterrichtsmaterial dienen. Weitere, mit dem Thema korrelierende Quellentexte sind auf den S. 88–94 vorangestellt, ebenfalls in englischer Übersetzung.
Bei der sehr eigenwilligen Vorgabe, studentische Übung zu updaten, übersieht Hammer völlig die im akademischen Unterricht bereits im ersten Semester zu erlernende Zitierweise; auch im angloamerikanischen Raum werden Quellen doch wohl ordentlich zitiert; dies gilt auch für Online-Quellen. Es hätte ihm auffallen müssen – was in Bayern jedem Heimatforscher gelingt –, dass die Freisinger Traditionen des »Cozroh-Codex« im Kooperationsprojekt »Freisinger Handschriften« des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, also der Staatlichen Archive Bayern, mit der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB), der Bayerischen Landesbibliothek Online (BLO) und dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung als moderne Online-Edition neu bearbeitet, von der Rezensentin neu erschlossen und mit neuen Regesten versehen wurden, Link: https://www.bayerische-landesbibliothek-online.de/cozroh (25.05.2018).
Ferner enthält die Online-Edition des »Cozroh-Codex« auch eine umfängliche Bibliografie sowie Literaturhinweise auf der virtuellen Seite der Beschreibung der Handschrift auf Deutsch und auf Englisch; beides wäre zu benützen gewesen. Das alles fällt bei Hammer völlig weg. Warum?
Auf der Seite von Brepols Publishers finden sich bei dem vom selben Autor 2012 publizierten Buch »From ducatus to regnum. Ruling Bavaria« folgende Angaben zu seiner Person: »Carl I. Hammer graduated from Amherst College (B. A.) and the University of Toronto (Ph.D.) and also studied at the universities of Munich, Chicago and Oxford. After a career in international business with Westinghouse and Daimler-Benz, he is now retired. He has published two other scholarly books on early-medieval Bavaria and numerous articles in academic journals in N. America and Europe. He lives in Pittsburgh.«
Hammer orientierte sich an englischsprachigen und anderen Werken zum Thema, die er ans Ende des Textteils seines Buches als »Part 3. Secondary References and Further Reading«, etwas willkürlich und ungeordnet zu seinen Ausführungen (ohne Fußnoten im Übrigen) zusammengestellt hat. Man gewinnt den Eindruck, dass hier ein Skriptum aus alter Studienzeit etwas aufgemotzt frischen Wind fangen und wirtschaftliche Konjunktur haben sollte. Aber entsteht so nicht für den englischsprachigen, akademischen Unterricht ein Niveauverlust, auch im internationalen Vergleich und Qualitätsranking? Die derzeitige Tendenz des Umschreibens und Umdenkens der mittelalterlichen Geschichte Europas auf dem Kontinent, vor allem der karolingischen und ottonisch-salischen Epochen, ins Englische soll hier nicht weiter angesprochen sein; es gibt beste Literatur auf Französisch, Deutsch, Italienisch oder Spanisch oder in den slawischen Sprachen.
Es fragt sich nur, ob auf der Basis von Studienarbeiten aus den 1970er Jahren an einer kanadischen Universität ein bayerisches Kulturdenkmal ersten Ranges zu Übungszwecken – nicht einmal auf Latein – popularisiert werden sollte? Natürlich sind die Ortsnamen der Quellentexte für das beigegebene Register den Regesten der Online-Edition entnommen, da diese bei der Bearbeitung durch die Rezensentin reflektiert und nach der bayerischen Gebietsreform aktualisiert sowie mit der Ortsdatenbank der BSB/BLO verlinkt wurden. Die Karte des »Huosiland« auf S. 243 weist die modernen Diözesangrenzen für Freising und Augsburg auf, die für das 8. und 9. Jahrhundert so natürlich nicht zutreffen. Ausgerechnet die beiden gut belegten Hauptorte der Huosi – Jesenwang und Landsberiet – fehlen bei den Eintragungen und wurden offenbar von Hammer übersehen.
Die moderne Karte ist vor allem für die von Hammer angenommene, fiktive Westgrenze der Diözese Freising zur Diözese Augsburg problematisch. Solches kommerzielle Machwerk sollte den Studierenden wohl nicht angeboten werden. Denn Studierende haben das Recht, an Originalen zu arbeiten und sollten die Online-Edition des »Cozroh-Codex« benützen und auf moderne Regesten zurückgreifen, auch im angloamerikanischen Raum. Für die Zeit der Karolinger bleibt das Latein die Sprache der Quellen, das bei Urkunden über Rechtsgeschäfte, die bekanntlich auf einer Formelsprache basieren, nicht schwer zu verstehen ist.
Für die Wissenschaft würde dieses, bestenfalls auf das Niveau einer mäßigen Masterarbeit einzustufende Buch im Eigenverlag des Verfassers keinen Nutzen bringen, denn der Ansatz ist verfehlt und berücksichtigt die einschlägigen Forschungsergebnisse nicht. Daher ist vor einer Verwendung im akademischen Unterricht eher zu warnen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Adelheid Krah, Rezension von/compte rendu de: Carl I. Hammer, Huosiland: A Small Country in Carolingian Europe, Oxford (Archaeopress) 2018, VIII–249 p., ISBN 978-1-78491-759-3, GBP 30,00., in: Francia-Recensio 2018/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.2.48311