Insgesamt haben wir hier ein mit viel Mühe und auf gutem Quellenstudium basierendes Buch vor uns, dessen Ergebnisse dennoch spärlich sind, eben weil die Quellen keine Möglichkeit zu großen Schlussfolgerungen geben. Außerdem – und das wiegt schwer – ist das gesamte Unternehmen nicht von einem Wunsch nach besserem historischen Verstehen geprägt, sondern von dem Drang, den Historiker und Archivar Kurt Forstreuter (1897–1979) sowohl in seiner Biografie wie in seinen Forschungsergebnissen zu diskreditieren. In einem früheren Aufsatz hat Hess ihn bereits heftig angegriffen und als willigen Helfer bei Archivplünderung und Deportationen der jüdischen und polnischen Bevölkerung in den annektierten Ostgebieten bezeichnet1. Im vorliegenden Buch geht sie immerhin bei der Verurteilung vorsichtiger vor; dafür werden jedoch als neuer Ansatz zwei Miszellen Forstreuters zur jüdischen Bevölkerung im mittelalterlichen Preußen ins Visier genommen, die dieser 1937–1938 veröffentlicht hat2.
Hieraus erklärt sich die Zweiteilung des Buches oder, wie Hess es nennt, »two books in one«: Auf einen zeitgeschichtlichen Teil zu Forstreuters Biografie mit dem Fokus auf den ersten Kriegsjahren folgt ein zweiter Teil, der sich mit jüdischen Händlern und Konvertiten im Staatsgebiet des Deutschen Ordens befasst. Dieser zweite Teil, der eine unbedingt erforderliche und längst überfällige Revision der Forschung bringt, wäre, würde er für sich stehen, wirklich zu begrüßen, da er in einem dürftig belegten Bereich bislang unberücksichtigtes Quellenmaterial aufweist. Damit ist Forstreuters Ansatz vollkommen widerlegt und könnte als zeitgebundener Irrtum abgelegt werden. Die Verquickung mit der zeitgeschichtlichen Frage und der Eifer3, mit dem dies betrieben wird, entwertet diese Mühen, da am Ende keine wirklich belastbaren Anklagepunkte zutage treten.
Man muss Forstreuter weder bewundern noch persönlich schätzen, auch wenn seine Mitarbeiter im Göttinger Archivlager (wohin die Bestände des Königsberger Staatsarchivs nach 1945 verbracht worden waren) dies sicher nicht ohne Grund tun. Denn die katastrophale Niederlage von 1945 hat manche Wendung – in seltenen Fällen sogar Läuterung – hervorgebracht an Personen, die zuvor in die Verbrechen des kollektiven deutschen Größenwahns verstrickt waren. Der gebürtige Königsberger Hans Schneider wäre eine solche Person: bis 1945 Mitarbeiter im SS-Ahnenerbe, später unter neuem Namen als Hans Schwerte linksliberaler Rektor der RWTH Aachen Träger einer vorbildlichen Hochschulreform, als Germanist Erforscher der persönlichen Schuldverstrickung schlechthin (»Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie«, 1962). Klaus Leggewie hat diesen Fall in bewundernswerter Klarheit beleuchtet und in einem unbedingt lesenswerten Buch dargestellt4.
Was Hess aber nicht sieht oder nicht anerkennen will: Die Causa Forstreuter könnte ähnlich liegen wie jene von Schneider/Schwerte, auch wenn Forstreuter in seiner Nachkriegsexistenz sicher nicht als »linksliberal« einzustufen wäre. Das Hauptindiz für eine tiefere Verstrickung in nationalsozialistische Verbrechen ist Forstreuters Verbindung zur Publikationsstelle Berlin-Dahlem (PuSte), die zum Preußischen Staatsarchiv gehörte und vom Generaldirektor des Preußischen Staatsarchivs Albert Brackmann eingerichtet wurde. Ihr Name ist irreführend, weil sie weniger publizierte als Materialien zusammenstellte, die in den Generalplan Ost mündeten.
An der hier erstellten verbrecherischen »Denkschrift zur Eindeutschung Posens und Westpreußens und der damit zusammenhängenden Umsiedlungen« waren mit Theodor Schieder, Hermann Aubin und Walter Trillmich deutsche Historiker beteiligt, die auch nach 1945 eine bedeutende Rolle im Fach spielen konnten. Forstreuter gehörte aber ganz sicher nicht dazu. Hess kann ihm also nur einen Beitrag in der Zeitschrift »Jomsburg« vorhalten, die von der PuSte herausgegeben wurde. Ob Forstreuters 1937 ausgedrücktes Bedauern, nicht mehr für »Jomsburg« geliefert zu haben, echtes Bedauern ausdrückt oder den diplomatischer Versuch eines Rückziehers, wäre gründlicher zu prüfen, als es Hess S. 66f. erkennen lässt.
Wir können dennoch mutmaßen, dass Forstreuter den deutschen Größenphantasien, die in den Generalplan Ost mündeten, nicht so fern stand wie sein Königsberger Vorgesetzter Max Hein (1885–1940). Letzterer forderte 1933 schon nach der Machtergreifung für Deutsche und Polen »gutes Einvernehmen zusammen wohnender Nationen«5. Forstreuter hingegen hat – Hess geht befremdlicherweise recht achtlos über diesen Aufsatz hinweg – 1936 in ersten Jahrgang der Zeitschrift »Kyrios. Vierteljahresschrift für Kirchen- und Geistesgeschichte Osteuropas« über angebliche Pläne des Deutschen Ordens zur Eindeutschung Südosteuropas publiziert6. Insofern darf man, ja muss man aufschrecken, wenn derselbe Autor 1937 nachzuweisen sucht, der Deutsche Orden habe bereits 1309 alle Juden aus seinem Staatsgebiet ausgewiesen – was bis ins 16. Jahrhundert wirksam geblieben sei.
In beiden Aufsätzen werden keine zeitgeschichtlichen Postulate erhoben und niemand wird ernsthaft behaupten, Forstreuter habe bereits 1936/1937 gewusst, was Hitler oder der Kreis um Theodor Schieder planten. Aber Forstreuters Miszellen hätten nach 1939 durchaus als historische Legitimation der Verbrechen auf polnischem Territorium Verwendung finden können.
Dies geschah aber nicht, da andere Historiker weit radikaler vorpreschten. Forstreuters vergleichsweise bescheidene Karriere im Dritten Reich macht es unwahrscheinlich, dass er zu den fanatischen Anhängern der neuen Siedlungsraumpolitik gehörte, denn diesen standen das Reichssippenamt und das SS-Ahnenerbe offen. Seine von Hess minuziös, aber stets nach dem Grundsatz »in dubio contra reum«, nachgezeichneten Dienstreisen nach Posen, Plock und Kaunas zeigen ihn als möglicherweise willfährigen, aber nie enthusiastischen Archivar in einem von der Wehrmacht und der Gestapo verwüsteten Land, in dem er auftragsgemäß verwaiste Archivalien sicherstellt und dabei mehr von den Verbrechen sieht als (zumindest nach Himmlers Vorstellungen) die deutschen Bevölkerung sehen sollte. Am Ende, wieder in Königsberg, erleidet er einen vollkommenen Zusammenbruch (den Hess marginalisiert), wird zum Problem und dann nach Jugoslawien an die Front geschickt, wo er in Gefangenschaft gerät.
Das Lebensbild des Archivars und Historikers Forstreuter gibt also bis 1945 manches, was über Verstrickung und Irrtum der deutschen Intelligenzia nachdenken ließe; Forstreuter ist dabei, wie Schneider/Schwerte und viele andere – um es einmal grob zu formulieren – ein Underdog. Es gelingt Hess nicht, die Geschichte dieses letztlich Gescheiterten zu einem beklemmenden Portrait der NS-Zeit zu verdichten, sie bleibt in dem naiven Versuch stecken, ihm mehr nachzuweisen, als er begangen hat. Kurz: Alles, was Leggewie über Schwerte lesenswert macht, fehlt dieser Monografie.
Als sich Forstreuter 1936 der jüdischen Bevölkerung im mittelalterlichen Preußen zuwandte, war die allseits anerkannte Forschungsmeinung, dass es im Staat des Deutschen Ordens zwischen Danzig und Memel keine Juden gegeben hatte. Erst 1538, so gab es schon 1867 Heinrich Jolowicz vor, nahm das Herzogtum Preußen einige wenige jüdische Siedler auf. Als Grund für die Vakanz nimmt Forstreuter an, dass infolge einer 1309 erlassenen Landordnung alle Juden des Landes verwiesen worden seien. Die Quelle ist eine zu Beginn des 16. Jahrhunderts von dem als »Lügenmönch« beschimpften Chronisten Simon Grunau präsentierte »Landordnung« von 1309. Sie ist allerdings schon 1876 von Max Perlbach als Fälschung entlarvt worden: Grunau gibt den nur leicht veränderten Wortlaut der Landordnung von 1503 wieder, in die die Erwähnung von Juden auch noch interpoliert wurde7. Hess geht dem noch einmal akribisch nach (S. 154–164), kann aber trotz aller Detailfreude keine neuen Ergebnisse präsentieren. Zwar zeigt sie, dass die falsche Landordnung im 16. Jahrhundert weit verbreitet war, kann aber keine plausible Erklärung liefern, was vor allem daran liegen dürfte, dass die so genannte »Danziger Chronistik«, zu der Grunau gehört, bis heute nicht zufriedenstellend entwirrt werden konnte.
Dass es mit einer Vertreibung 1309 nicht weit her gewesen sein kann, wäre bei gründlichem Literaturstudium also zu bemerken gewesen. Auch hat – was Forstreuter wie Hess entgangen ist – schon 1902 der Germanist Karl Helm darauf hingewiesen, dass die Vereinbarung zwischen dem Deutschen Orden und den preußischen Städten vom 23.10.1435 nach alder gewonheit allen Juden den Handel in Preußen untersagte – was ja irgendwie voraussetzt, dass ein solcher Handel zwischenzeitlich stattgefunden hat. Hess kehrt mit gutem Recht diesen Recess gegen Forstreuter und kann die Rahmenbedingungen zu dieser nur scheinbar singulären Beobachtung aufdecken: Der Städtetag sollte den »Ewigen Frieden« zwischen dem Orden und dem polnischen König bestätigen, der einen Schlussstrich unter den »Großen Krieg« und seine kleineren Folgekriege seit 1410 ziehen sollte.
Nach der Niederlage von Tannenberg hatte der Orden große Teile seines Gebietes an den polnischen König verloren, darunter Thorn und Danzig. Sie wurden ihm zwar zurückgegeben, aber Hess kann glaubhaft machen, dass sich die Städte in der Zwischenzeit im Sinne des Königs für jüdische, aber auch englische und polnische Händler geöffnet hatten (S. 242f.) Von da an lassen sich immer wieder Hinweise auf durchreisende Händler finden, die von polnischem Staatsgebiet in die Hansestädte Danzig und Königsberg ziehen und dabei ausgeraubt wurden.
Nicht ganz zu klären, aber signifikant, sind Danziger Ortsbezeichnungen wie die »Judengasse« in der Danziger Altstadt und ein »Judenberg« außerhalb der Stadtmauern (S. 249f.) Konkrete belastbare Quellen fehlen jedoch. Hess vermutet, dass die jüdischen Händler unter die gleichen abweisenden Bestimmungen fielen, die z. B. gegen britische Händler geltend gemacht wurden (S. 250), und verortet sie vor allem in »Altschottland«, einer ursprünglich für schottische Weber eingerichteten Freiheit außerhalb der Stadt. Nachweisen kann man dort Juden aber erst ab dem 18. Jahrhundert, wo sich die ehemalige Freiheit längst in ein reguläres Stadtviertel verwandelt hatte (S. 251).
Das Ergebnis der mühsamen Suche ist plausibel, wenngleich dürftig: Es hat zumindest ab dem 15. Jahrhundert jüdische Händler im Ordensstaat gegeben, allerdings spricht nichts dafür, dass es sich um eine größere Anzahl handelte, noch dass sie anders behandelt wurden als alle »fremden« Händler, also solche, die nicht aus dem Ordensstaat selbst, dem Reich oder einer Hansestadt kamen. An früherer Stelle konnte Hess Hinweise auf Konvertiten aufdecken (S. 194–199). Auch das ist überzeugend.
Leider lässt es Hess damit nicht bewenden und verirrt sich in literaturgeschichtliche Abgründe, wobei sie die einschlägige Fachliteratur manipulativ heranzieht. Gab es Antisemitismus im Deutschen Orden? Da die Satzungen und Verordnungen nichts hergeben, soll die so genannte »Deutschordensliteratur« befragt werden. Aus deren abertausend Versen tritt das Werk Heinrichs von Hesler hervor. Hess weist zu Recht darauf hin, dass sich Heinrich, ein Angehöriger des thüringischen niederen Adels (dessen Familie erst später in Kontakt zum Deutschen Orden trat) am Ende des 12. Jahrhunderts in seinen beiden gereimten Lehrdichtungen (einem Apokalypsenkommentar und einer Nachdichtung des »Evangelium Nicodemi«) zu üblen antisemitischen Äußerungen hinreißen lässt. Nicht richtig ist jedoch, beide Dichtungen als »Deutschordensliteratur« zu vereinnahmen, auch wenn dies in der bis weit in die 1990er Jahre stagnierenden Forschung als ausgemacht galt. Inzwischen wissen wir: Es ist viel komplizierter8. Die »Apokalypse« ist, soweit hat Hess Recht, in drei repräsentativen Handschriften aus dem Ordensgebiet überliefert. Dass an dem monumentalen Gedicht aber nun ausgerechnet die immer wieder eingestreuten antisemitischen Verse bei den Ordensbrüdern auf Interesse stießen, ist nicht zu beweisen. Anders verhält es sich mit dem »Evangelium Nicodemi«. Es versteigt sich am Schluss zu einem regelrechten Sermo contra Iudeos, aber erstens es ist im Ordensstaat überhaupt nicht nachzuweisen und zweitens kürzen die meisten Handschriften diesen antisemitischen Schlusstraktat oder lassen ihn ganz weg. Für einen Antisemitismus in Preußen muss Heinrich von Hesler damit ausscheiden (und es bleibt ein Phänomen besonderer Art, dass nach der Rolle der beiden antisemitischen Dichtungen in Thüringen, wo sie hingehören, weder hier noch sonst gefragt wird). Hess spekuliert und irrt also, wenn sie sagt, das Werk des politisch einflusslosen Thüringers Heinrich von Hesler »constitutes a step from religious and theoretical to practical anti-Judaism on a discursive level and might well have served as an argument for the expulsion of Jews from Prussia or for a ban on their settlement« (S. 183).
Konkreter wird eine Legende, die der Ordenschronist Peter von Dusburg anführt (III 284, Hess S. 184 gibt die Stelle nicht an); der sterbende Komtur von Ragnit Henricus de Cunce soll im Jahr 1303 in einer Vision von einem disputierenden Juden aufgefordert worden sein, sich dem jüdischen Glauben anzuschließen, was er aber durch das Aufsagen des Glaubensbekenntnisses verweigert habe. Auch hier ist der konkrete Bezug vage. Der Verführungsversuch des Juden ist lächerlich (Henrice audisti nunc, quia fides tua te salvum facere non potest, crede ergo fidem Judeorum) und setzt nicht voraus, dass sich Juden in Preußen aufhielten (auch dieser Henricus stammte übrigens aus Thüringen) – sicher ist nur, dass hier die Macht des Glaubensbekenntnisses in der Todesstunde illustriert wird.
Ebenfalls nur Wunderepisode und ohne jede preußische Komponente ist eine Erzählung über die Konversion eines Juden in Toledo, die Peter von Dusburg in den »Incidentien« für 1232 berichtet. Man fragt sich bei der Lektüre, worauf Hess eigentlich hinaus will. All das steht, das muss man ihr zugestehen, »in a tradition of Christian polemical writing«, und selbst wenn wir gelten lassen, dass es dazu dient »to establish Judaism as a religion that is at least deemed worthy of a dialogue with Christianity« (S. 190): Was belegen diese Florilegien eigentlich anderes, als dass die Chroniken des Deutschen Ordens keine Ressentiments gegen Juden zeigen, eigentlich nicht einmal Interesse? Das gilt auch angesichts der Anrufung der Makkabäer als Vorbild des Ordens, die Hess aus der »Jüngeren Hochmeisterchronik« zitiert. Sie findet sich schon lange vorher in der Präambel zu den Statuten des Ordens und ist als biblischer Topos in der christlichen Literatur ubiquitär. Einen Bezug zu den im Abendland lebenden zeitgenössischen Juden hat daraus niemand hergestellt9.
»Two books in one« – zumindest das erste davon darf als misslungen gelten. Trotz hoher Ambitionen bleibt die Causa Forstreuter in Unterstellungen stecken. Alternativ, wenn es denn um die ost- und westpreußische Landesforschung gehen sollte, wäre Erich Keyser mit seiner »ausgesprochen völkisch eingestellten Geschichtsauffassung«10 angreifbar, der 1950 trotz seiner Belastung die Historische Kommission für Ost- und Westpreußische Landesforschung neu ins Leben rief. Noch erfolgversprechender wäre eine gründliche Untersuchung der Publikationsstelle Berlin-Dahlem mit ihrem Geflecht von Historikern und Archivaren, die nur zu bereitwillig und ohne auch nur vor sich selbst Rechenschaft abzulegen dem Verbrechen des Generalplans Ost zuarbeiteten und in den meisten Fällen das Ende des Dritten Reichs ungestraft überstanden und in der Bundesrepublik zu neuem Ansehen kamen. Warum also Kurt Forstreuter? Die Autorin verrät es nicht. Dabei erreicht ihr Bannstrahl den Antipoden Forstreuter nicht einmal mehr – aber die Frühgeschichte der preußischen Juden, die wir der Autorin gerne danken würden, hätte in einem würdigeren Kontext als in einer Fehde voller Missgunst und Ressentiments entwickelt werden müssen. So mag man daraus eigentlich nicht zitieren.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Arno Mentzel-Reuters, Rezension von/compte rendu de: Cordelia Hess, The Absent Jews. Kurt Forstreuter and the Historiography of Medieval Prussia, New York, Oxford (Berghahn) 2017, X–323 p., 2 maps, 1 tabl., ISBN 978-1-78533-492-4, GBP 85,00., in: Francia-Recensio 2018/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.2.48312