Wie kein zweiter französischer Historiker hat sich Jean-Loup Lemaitre in seinen Arbeiten um die Erschließung der mittelalterlichen Gedenküberlieferung verdient gemacht, wie sie in zahlreichen, vorrangig necrologischen Handschriften erhalten ist. Nach dem im europäischen Umkreis immer noch einzigartigen »Répertoire des documents nécrologiques français« aus dem Jahr 1980 hat Lemaitre in vielen Beiträgen einzelne Aspekte der Entstehung und Überlieferung dieser als schwierig geltenden Quellengattung herausgearbeitet.
Darüber hinaus ist es ihm gelungen, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts im Rahmen des »Recueil des historiens de la France« initiierte Reihe der »Obituaires« in entscheidend besserer Editionsqualität wieder zum Leben zu erwecken. Deren ältere großformatige sechs Bände (1901/02, 1906, 1909, 1923, 1933, 1966) genügten kaum den Erfordernissen einer kritischen Erforschung, da die Totenbücher zumeist nur in knappen Auszügen (z. B. Würdenträger) abgedruckt wurden. Lemaitre konnte bereits 1985 mit »Les documents nécrologiques de l’abbaye Saint-Pierre de Solignac« den ersten Band einer nicht nur im Format neuen und qualitätsvolleren Reihe publizieren, die dem verstärkten Interesse an den mittelalterlichen Gedenkquellen eine adäquate quellenkritische Basis liefert. Die Festschreibung neuer, dafür geeigneter Editionskriterien, die Lemaitre in Zusammenarbeit auch mit deutschen Spezialisten entwickelte, bildet die Grundlage dieses Corpus. Der hier zu besprechende 16. Band der Reihe wurde von Lemaitre selbst verantwortet.
Ausgangspunkt der Edition sind ein Domnecrolog des 13. und ein Einkunftsverzeichnis des 14. Jahrhunderts (beide original erhalten) sowie mehrere aus frühneuzeitlichen Abschriften rekonstruierte Memorialquellen, die der Herausgeber bereits in seinem »Répertoire« beschrieben hat (Répertoire, Nr. 2711–2721), und die hier in folgenden Abteilungen ediert werden:
1. Le martyrologe-obituaire (BNF ms. lat. 17116; BNF coll. Baluze 41). 2. L’obituaire du XIIIe siècle (AD de la Haute-Vienne, 3 G 511). 3. L’obituaire de 1308. Le »codex G« (AD de la Haute-Vienne, I SEM 13 [1]; BNF ms. lat. 9193). 4. Le »codex L« (Limoges, Bibl. francophone multimedia 12; AD de la Haute-Vienne, I SEM 13 [1]; BNF ms. lat. 9193; BNF coll. Baluze 41). 5. Le terrier de la baylie des anniversaires (AD de la Haute-Vienne, 3 G 512).
Die Handschriften werden S. 49–72 ausführlich beschrieben.
Der Band bietet mit dieser Auswahl erstmals über die Bischofslisten hinausgehende Vorarbeiten zu einer Prosopografie der Kathedralkirche von Limoges. Die gemeinsame Präsentation von Necrologien mit der Martyrologüberlieferung in der Edition ist sinnvoll, da die Kanoniker – wie in vielen Institutionen üblich – die Namen der Verstorbenen in schon vorhandene Heiligenkalender eintrugen; durch diese »Ordnung der Memoria« erhielt der Gedenkeintrag an der Seite der Heiligen eine heilsversprechende Funktion. Der Gedenküberlieferung vorangestellt sind ein mémoire mit den in verschiedenen Epochen zum Domkapitel gehörenden Ämtern (S. 19–27) und ein Auszug aus den Statuten der Kathedralkirche mit den Abschnitten zum Totengedenken (S. 28–31). Die in der Edition benutzten traditionellen Bezeichnungen der einzelnen Quellen sind nicht sehr präzise gewählt, denn z. B. das sog. obituaire des 13. Jahrhunderts ist in Wirklichkeit auch ein Martyrolog-Necrolog oder zumindest ein Heiligenkalender mit necrologischen Ergänzungen.
Die Einträge (rund 1500) werden im gesamten Band fortlaufend gezählt und ermöglichen damit ein sinnvolles Verweissystem. Da die so präsentierte Memorialüberlieferung aber zum großen Teil aus parallelen Nennungen besteht und viele Verstorbene mit mehreren Stiftungen vertreten sind, bzw. Schenkungen von mehreren Personen vorgenommen wurden, ist die Anzahl der Personen im Ergebnis kleiner als die Anzahl der Einträge. Auch erscheint die Entscheidung, ob Heiligenfeste eine eigene Nummer erhalten, häufig willkürlich getroffen zu sein. Die Texte bezeugen vor allem ausführlich beschriebene Stiftungen zugunsten des Domkapitels, einige Vorschriften erstrecken sich über mehrere Druckseiten.
Der erfasste Personenkreis reicht über merowingische und karolingische Könige und Heinrich den Jüngeren (Plantagenêt) von England sowie Bischöfe und Kanoniker der Domkirche bis hin zu Adeligen der Umgebung von Limoges und Bürgern der Stadt selbst. Beziehungen zu anderen kirchlichen Institutionen werden kaum sichtbar. Vorrang haben immer die Stifter und Wohltäter des Kapitels, vor allem, wenn diese in der Kathedrale begraben wurden. In den Anmerkungen kann ein Großteil der Personen identifiziert werden; nicht immer wird ergänzend auf die parallelen Einträge in den anderen Editionsteilen verwiesen.
Die in den frühneuzeitlichen Kopien enthaltenen Bemerkungen zur chronologischen Einordnung der Namen der Originalhandschrift (manua alia, manu recenti, carctere recenti) werden übernommen und bei der Identifizierung berücksichtigt. Neben den Personen sind auch liturgische Bemerkungen und Anweisungen interpretiert. Diese erschließt zusammen mit anderen Sachbegriffen eine »Table des principales matières« (S. 491–507).
Ansatzweise werden in den identifizierenden Anmerkungen allgemeine prosopografische Überlegungen angestellt, aber eine zusammenfassende Interpretation des in den edierten Quellen kommemorierten Bestandes gibt es nicht. Wie auch in anderen hochmittelalterlichen Memorialquellen beschränkt sich die hier getroffene Auswahl auf herausragende, bekannte Persönlichkeiten und Wohltäter. So sind Childebert I. und Pippin II. vermerkt, aber nur wenige frühe Bischöfe von Limoges. Der überwiegende Teil der Kanoniker scheint nur deshalb eingetragen worden zu sein, weil mit ihren Namen Stiftungen verbunden waren.
Die im Anhang abgedruckte Liste (S. 407–426) der Bischöfe von Limoges mit dem Nachweis ihrer Präsenz in älteren handschriftlichen oder gedruckten Listenwerken kann als ein erster Schritt zur Analyse der im Hochmittelalter in der Kathedralkirche gepflegten Memorialtradition angesehen werden. Von den rund 35 zwischen dem 9. und 14. Jahrhundert nachzuweisenden Bischöfen der cathedra Lemovicensis sind demnach 21 hier mit necrologischen Einträgen erwähnt. Nicht vermerkt sind in dieser Liste die als heilig verehrten Bischöfe von Limoges, deren Festtage nur die Martyrologüberlieferung nennt (z. B.: Asclepius, S. 78 und S. 101; Lupus, S. 85 und S. 347 [beide 7. Jahrhundert]; Cessator, S. 99 [8. Jahrhundert]). Ihre Namen erscheinen stattdessen, teils mit, teils ohne Identifizierung, im »Index hagiographique«. Die verdienstvolle Identifizierung der Personen wirkt durch solche Inkonsequenzen unsicher.
Kleinere Versehen schmälern nicht die immense Leistung dieser Editionskompilation. 16 Tafeln (S. 33–48) präsentieren Bilder und Pläne zur Baugeschichte der Kathedralkirche, Grabmonumente und Epitaphien sowie einige Seiten aus den publizierten Handschriften. Letztere ermöglichen den direkten Vergleich mit der Edition und zeigen z. B. Fehler bei der Wiedergabe der römischen Ziffern auf S. 137 (Tafel 13, zum 12. und 13. Mai). Der Eintrag von Guillermus Boerii, magister in artibus und in utroque jure licentiatus, von 1465 (S. 222 f., Nr. 636) fällt auf durch die aus Urkunden bekannte Poenformel: qui premissa hec ex libro deleverit [...] ejus nomen de liber viventium deleatur in eternum. Er müsste im Register (S. 478) allerdings statt Saint-Sulpice-les-Feuilles (Haute-Vienne) richtig Saint-Sulpice-le-Donzeil (Creuse) zugeordnet werden (S. 223: de sancto Sulpicio domicelli oriundus).
Der schon erwähnte König Heinrich der Jüngere ist im Register in den in Limoges verwendeten Formen Ahenricus und Henricus zu finden, ohne dass die Schreibvarianten an dieser Stelle miteinander verknüpft werden. Odo verweist auf ein Lemma Hodo, das es nicht gibt. Die Lemmata Anglia oder Francia fehlen im Index der Personen und Orte. Belege zu den Königen tauchen zusammengefasst erst im Sachregister unter rex auf, ebenso wird erst dort unter imperator und papa auf die entsprechenden Amtsinhaber verwiesen.
Dem Herausgeber ist vor allem zu danken für die weitgehend als synoptische Edition anzusehende Zusammenfassung der unterschiedlichen prosopografischen Quellen aus Limoges. Sie bietet eine hervorragende Möglichkeit zur Untersuchung der personellen und sozialen Zusammensetzung des Domkapitels und seiner Förderer, vor allem im 13. und 14. Jahrhundert.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Franz Neiske, Rezension von/compte rendu de: Jean-Loup Lemaitre (éd.), Les obituaires du chapitre cathédral Saint-Étienne de Limoges, Paris (Académie des inscriptions et belles-lettres) 2017, 512 p. (Recueil des historiens de la France. Obituaires. Série in-8, 16), ISBN 978-2-87754-350-7, EUR 50,00., in: Francia-Recensio 2018/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.2.48315