Das Konstanzer Konzil (1414−1418) als eine der bedeutendsten, wenn auch nicht längsten Versammlungen von geistlichen und weltlichen Fürsten im Spätmittelalter gilt nicht nur als historischer Wendepunkt in der Kirchengeschichte Europas, sondern auch als musikalisches Ereignis. Denn im Gefolge von Päpsten, Kardinälen, Bischöfen, Königen und weltlichen Herren reisten die Komponisten und Musiker der päpstlichen und höfischen Kapellen mit ihren länderspezifischen Repertoires. So trafen in Konstanz »in einmaliger Weise und Dichte und teilweise zum ersten Mal verschiedene musikalische Stile und Traditionen aufeinander, deren Interaktion sowohl durch gegenseitige Beeinflussung als auch durch jeweilige Profilierung und Abgrenzung gekennzeichnet ist«, wie die Herausgeber und die Herausgeberin des vorliegenden Sammelbandes Joachim Steinheuer (Heidelberg), Stefan Morent (Tübingen) und Silke Leopold (Heidelberg) betonen.
Musikalische Anlässe, wie sie die maßgebliche Konzilschronik des Ulrich von Richental (1360‒1437) schildert, gab es auf der Versammlung reichlich: Einzüge weltlicher und geistlicher Herren, Prozessionen, vokal begleitete Dank- und Bittgänge sowie liturgische Musik zu feierlichen Anlässen wie die Eröffnung des Konzils, aber auch die Darbietungen von Spielleuten und Gauklern rund um das Konzilsgeschehen lassen eine vielfältige Klangkulisse erahnen, die allerdings nur unzureichend erschlossen ist. Das gilt auch für die Anwesenheit von Musikern auf dem Konzil, da nur die Teilnahme des Minnedichters Oswald von Wolkenstein bislang zweifelsfrei erwiesen ist.
Die insgesamt 13 Aufsätze – zuzüglich Vorwort, Orts-, Personen-, Werk- und Sachregister − haben sich daher zum Ziel gesetzt, die musikgeschichtlichen Implikationen des Konstanzer Konzils in sozialer, geografischer, religiöser und musiksoziologischer Hinsicht zu erforschen und zugleich einen Anstoß zur Aufarbeitung von Quellenkorpora des frühen 15. Jahrhunderts zu geben. Ausgangspunkt war ein im Juni 2014 abgehaltenes internationales Symposium über »Europäische Musikkultur im Kontext des Konstanzer Konzils«, das einen thematischen Bogen zur zeitgleichen Jubiläums-Ausstellung des Landes Baden-Württemberg schlug, musikalisch umrahmt durch das Konzert-Festival »Europäische Avantgarde um 1400«.
Doch was bedeutet »Europäische Avantgarde« um 1400? Reinhard Strohm (Oxford) erläutert einführend die musikästhetischen Umbrüche in der mehrstimmigen Vokalmusik zwischen 1400 bis 1420, die vom französischen Kompositionsstil der Ars subtilior hin zu einer »neuen Einfachheit« polyphoner Strukturen führen.
Klaus Oschema (Bochum) analysiert aus historischer Perspektive die maßgeblichen Probleme und Debatten des Konstanzer Konzils, wobei er kritisch die Frage nach dessen heutiger Kontextualisierung als »europäisches Ereignis« beleuchtet. Konstanz erscheint ihm als Signum für das Spannungsfeld zwischen einer immer noch universal gedachten Christenheit und den »national« gefassten Reichen Europas als reale Bezugsgröße.
Ansgar Frenken (Ulm) lenkt den Blick auf den entscheidenden Grund für die Einberufung des Konzils, die Beilegung des Großen Abendländischen Schismas (1378−1417). Frenken konstatiert, dass das Konzil neben der Causa unionis mit der Erwartung einer grundlegenden Erneuerung der korrumpierten und im Niedergang begriffenen Römischen Kirche verbunden war (Causa reformationis), in der konkreten Umsetzung von langfristig wirksamen Reformen aber in Absichtsbekundungen und programmatischen Erklärungen stecken blieb.
Anette Löffler (Frankfurt am Main) belegt den hohen Anteil liturgischer Handschriften in den Bibliotheksverzeichnissen der Avignoneser Päpste Urban V., Gregor XI. und vor allem Benedikt XIII., was Rückschlüsse auf die Gestaltung von Messe und Offizium zur Zeit des Konstanzer Konzils ermöglicht.
Stefan Morent (Tübingen) weist in seinem Beitrag auf ca. 300 bislang unausgewertete liturgisch-musikalische Handschriftenfragmente aus dem Stadtarchiv Konstanz hin, die dazu beitragen könnten, kaum belegte Choraltraditionen lokaler Klostergemeinschaften im deutschen Südwesten zu erschließen. Aus dem Korpus ließen sich so weitere Erkenntnisse über die auf dem Konzil erklingende Musik gewinnen.
Thomas Martin Buck (Freiburg i. Br.) plädiert in seinem Beitrag für die Auswertung der Namen- und Teilnehmerlisten aus der Konstanzer Konzilschronik Ulrich Richentals. Dabei lenkt er den Blick auf die protokollierte Anwesenheit von 1700 Musikern und Komponisten, die in der handschriftlichen Überlieferung als eigener Berufsstand fassbar sind. Eine Auswertung der nicht nach rein statistischen Gesichtspunkten angelegten Namenlisten ermögliche daher wesentliche Aufschlüsse über die personale Zusammensetzung des Konzils sowie weiterführend über größere soziale und auch musikalische Netzwerke.
Marc Lewon (Basel/Oxford) untersucht die Produktivität Oswald von Wolkensteins in der Zeit des Konstanzer Konzils. Ausgangspunkt bilden die beiden großen Liederhandschriften des Komponisten, die zahlreiche Andeutungen auf die konziliaren Ereignisse enthalten sowie Kontrafakturen von französischsprachigen Chansons im neuen »internationalen« bzw. »burgundischen« Stil überliefern, mit dem Wolkenstein möglicherweise erstmals auf dem Konzil in Berührung kam.
Maricarmen Gómez Muntané (Barcelona) bereichert unser Wissen um musikalische Traditionen und Entwicklungen auf der Iberischen Halbinsel zwischen 1400 und 1420, wobei sie an ausgewählten Manuskripten unter anderem der Bibliothek von Catalunya (Codex 853 c/d) den langfristig prägenden Einfluss französischer Repertoires im Stil der Ars Nova nachweisen kann.
Margaret Bent (Oxford) führt die seit den 1420er Jahren zu beobachtende Rezeption englischer Musik auf dem europäischen Festland auf Transferleistungen des Konstanzer Konzils zurück. So zeigen z. B. die Kompositionen des Franko-Flamen Guillaume Dufay aus diesen Jahren deutliche stilistische Einflüsse des englischen Komponisten John Dunstable.
Signe Rotter-Broman (Berlin) analysiert Multilingualität in italienischen Musikhandschriften aus der Zeit des Konstanzer Konzils und kommt zu dem Schluss, dass sich der von der älteren Forschung postulierte Gegensatz von italienischem Trecento-Stil und französischer Ars Nova nicht aufrecht erhalten lässt. Sie belegt dies an ausgewählten Kodizes aus dem Veneto (Mailand/Pisa), die nicht nur französische Kompositionen im sogenannten internationalen Stil, sondern auch traditionell komponierte polyphone, italienisch textierte Liedsätze enthalten, was sie zu der Erkenntnis führt, dass es sich um simultan genutzte musikalische Repertoires handelt. Eine wichtige Schlussfolgerung: Multilingualität als ein Signum des Konstanzer Konzils ist somit kein Sonderfall, sondern stellt sich auch bezogen auf die musikalischen »Sprachen« des frühen 15. Jahrhunderts als Normalfall dar.
Francesco Zimei (L’Aquila) untersucht stilistische Besonderheiten in weltlichen und geistlichen Kompositionen des in Diensten Gregors XII. und Johannes’ XXIII. stehenden italienischen Komponisten Antonio Zacara da Teramo. Die Zeitgebundenheit seiner Texte im Kontext des Schismas erkläre auch deren fehlende Rezeption auf dem Konstanzer Konzil.
Jason Stoessl (Armidale) erkennt in französischsprachigen Kompositionen der Nach-Konstanzer Zeit stilistische Verschiebungen und Veränderungen im Repertoire: politisierende Chansons und Motetten der Schisma-Zeit im Stil der Ars Subtilior verschwinden; stattdessen zeigen die neuen Kompositionen z. B. von Jean Cesaris, Pierre Fontaine und Nicholas Grenon ein Aufbrechen des polyphonen Idioms, was auf breitere Rezeptionsschichten in Europa hindeutet. Insofern könnte dem Konstanzer Konzil hier eine konkrete transformative Bedeutung zukommen.
Uri Smilansky (London) weist am Beispiel der Chanson »Amour m’a le cuer mis« von Antonello da Caserta (Codex Modena, Biblioteca Estense e Universitaria a.M.5.24) auf die über den französischen Raum hinauswirkende stilistische Prägekraft der höfischen Ars Subtilior im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert hin.
Der quellenreiche, ansprechend illustrierte Symposiumsband eröffnet durch unterschiedliche Zugriffe und länderspezifische Schwerpunkte ein facettenreiches Panorama der weltlichen und geistlichen Musikkultur der Jahre 1400 bis 1430, das es lohnt, weiterführend zu untersuchen. Die Bedeutung des Konstanzer Konzils als Transfer- oder sogar Wendepunkt kristallisiert sich für einige der geschilderten musikalischen Phänomene bereits heraus. Nicht zu unterschätzen ist aber auch der kulturelle Austausch an den zentralen europäischen Höfen und Herrschaftszentren und hier vor allem das Vorbild der frühen franko-flämischen Musik mit ihrem burgundisch-englischen Einflussgebiet. Denn wie und durch wen bestimmte musikalische Repertoires und Stile nach Konstanz gelangten, ist bislang nicht im Detail geklärt. Eine digitale Erschließung der Teilnehmerlisten (zur Ermittlung der anwesenden Musiker und Komponisten) sowie der liturgischen Handschriftenfragmente des Stadtarchivs Konstanz könnte dabei wichtige Aufschlüsse über das Konzil als richtungweisendes kulturelles Ereignis im Spannungsfeld zwischen Peripherie und Zentrum liefern.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Valeska Koal, Rezension von/compte rendu de: Stefan Morent, Silke Leopold, Joachim Steinheuer (Hg.), Europäische Musikkultur im Kontext des Konstanzer Konzils, Ostfildern (Jan Thorbecke Verlag) 2017, 265 S., 30 Abb. (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, 47), ISBN 978-3-7995-6847-0, EUR 45,00., in: Francia-Recensio 2018/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.2.48320