Der »Liber ymnorum«, eine um 884 entstandene Sammlung von Sequenzen des St. Galler Mönchs Notker Balbulus, genannt »der Stammler« (geb. um 840, gest. 912), gehört ohne Zweifel zu den herausragenden Zeugnissen frühmittelalterlicher liturgischer Musik. Dabei kommt gerade den Sequenzen eine besondere, impulsgebende Bedeutung in der Entwicklung und Ausgestaltung des Gregorianischen Chorals zu: Die Sequenz ergänzt im Formular der Messfeier das Alleluja, indem die lange Tonfolge auf den Schlussvokal »a« in seiner Wiederholung nach dem Vers ersetzt bzw. fortgesetzt wird (von lat. sequi). Die Herausforderung für den Schöpfer von Sequenzen besteht darin, frei rhythmische Dichtungen auf bereits vorhandene textlose Melodien so zu gestalten, dass Betonungen und Sprachfluss mit den melismatischen Tonfolgen korrespondieren.
Bislang waren die Sequenzen Notkers in keiner leicht greifbaren, für die chorale Praxis verwendbaren Edition zugänglich. Die vorliegende Ausgabe des Tübinger Musikwissenschaftlers und Leiters der Schola Cantorum der Universität Tübingen Stefan Morent ergänzt diese Lücke und präsentiert 20 ausgewählte Sequenzen zu zentralen christlichen Festen des Kirchenjahres, darunter Weihnachten, Ostersonntag, Christi Himmelfahrt, Pfingsten, Mariä Geburt und Allerheiligen. Zugleich ergänzt die Publikation das von Morent langfristig angelegte Projekt »e-sequence«, ein von der Stiftsbibliothek St. Gallen und dem Südwestrundfunk gefördertes Vorhaben zur digitalen und audiovisuellen Edition von Notkers Werk.
In seiner pointiert geschriebenen Einleitung (»Zum geschichtlichen Hintergrund«) stellt Morent heraus, dass Notkers Sequenzen mit ihrer charakteristischen Struktur aus paarweise wiederholten Abschnitten (Versikeln) im Mittelteil die ersten Neuschöpfungen ihrer Art sind und eine eigenständige poetisch-musikalische Kunstgattung in der abendländisch-lateinischen Liturgie begründen. Notiert wurden Sequenzen seit dem frühen 9. Jahrhundert in Form von Neumen, d. h. speziellen grafischen Zeichen, welche den melodischen Verlauf, aber auch die intendierte Interpretation des Gregorianischen Chorals schriftlich festhalten. Die Entwicklung führte dabei von adiastematischen Neumen, die Melodien ohne genaue Intervallangabe übermitteln, hin zu Neumen mit Liniennotation, die in St. Gallen seit dem 15. Jahrhundert überliefert sind.
Impulsgebung für die Neumennotate könnte, so Morent, die Vereinheitlichung von Liturgie und Schrift im Zuge der karolingischen Reformen des 9. Jahrhunderts gewesen sein, wovon auch die Rechtsaufzeichnung der »Admonitio generalis« (789) Karls des Großen zeugt. In diesem historischen Kontext kommt dem Kloster St. Gallen mit Sicherheit eine herausragende Stellung zu, die sich in zahlreichen bedeutenden liturgischen Handschriften des 8.‒11. Jahrhunderts manifestiert.
Im Kapitel »Zur Qellenüberlieferung« kommt Morent dann auf die besonderen Herausforderungen der vorliegenden Edition zu sprechen. Die Tradierung der Sequenzen Notkers erfolgte in St. Gallen jahrhundertelang durch adiastematische Neumen, so in den frühesten Fragmenten des »Liber ymnorum« im Codex 317 der St. Galler Kantonsbibliothek Vadiana, im Codex lat. 10587 der Pariser Bibliothèque nationale sowie in den ältesten vollständigen, allerdings textlosen Überlieferungen der Codices Sang. 381 und Sang. 484 der Stiftsbibliothek St. Gallen aus dem ersten Viertel des 10. Jahrhunderts. Von Bedeutung für Morents Rekonstruktion sind auch die Codices Sang. 376, 378, 380 und 382, die Handschrift Einsiedeln 121 aus dem späten 10. Jahrhundert (mit 40 identifizierten Sequenzen Notkers) sowie die 1001 auf der Reichenau geschriebene Handschrift lit. 5 der Staatsbibliothek Bamberg. Zur Rekonstruktion der Tonhöhen zieht Morent überdies spätere Zeugnisse des 15./16. Jahrhunderts mit Liniennotation aus dem Galluskloster selbst als auch Überlieferungen außerhalb St. Gallens, etwa aus dem Kloster Einsiedeln, heran.
Da die Überlieferung St. Galler Linienhandschriften erst relativ spät einsetzt, waren inzwischen eingetretene melodische Veränderungen bei der Rekonstruktion zu berücksichtigen. Der von Morent präsentierte Melodieverlauf kann daher nur eine Annäherung an die Melodien des 9./10. Jahrhunderts bieten, allerdings auf der Grundlage der frühesten greifbaren Überlieferung (vgl. das Kapitel »Zur Edition«). Text und Textgliederung folgen Codex Sang. 381.
Im Aufbau präsentiert die Edition farbige Abbildungen der 20 Sequenzen aus der ältesten Überlieferung der St. Galler Bibliothek, die das zeitgenössische Notat bildhaft verdeutlichen. Die Melodien sind darin in einer eigenen Spalte am Rand in Form von Neumen aufgezeichnet und zu Beginn in Reminiszenz an das Alleluja mit den entsprechenden Vokalen AEUA oder AEUIA unterlegt. In der Hauptspalte stehen die Verse, die den jeweiligen Melodiesegmenten in der Randspalte zuzuordnen sind. Es folgt der von Morent rekonstruierte Melodieverlauf mit darüber gesetzter Neumennotation im Verhältnis zum Text sowie ergänzend der jeweilige Sequenztext in lateinischer Sprache mit deutscher Übersetzung.
Im Sinne einer praktisch handhabbaren Ausgabe für Chorsänger verzichtet Morent auf einen aufwändigen kritischen Apparat, gibt aber im Anhang insofern Hinweise auf Rekonstruktionsentscheidungen, als zu jeder Sequenz die verwendeten Handschriften sowie bereits existierende Editionen von Text bzw. Text und Melodie verzeichnet sind. Der Melodieverlauf ist in Anlehnung an die heutige liturgische Praxis in Quadratnotation wiedergegeben. Zusätzlich als Hinweis auf die Interpretation sind in Rot die Neumen aus Codex Sang. 484 hinzugefügt.
Als Hilfe für den Vortrag ist der Text mit Akzenten für die Silbenbetonung und gliedernder Interpunktion nach den Regeln des klassischen Lateins versehen. Die Schlüssel sind so gewählt, dass die Notation möglichst ohne zu viele Hilfslinien auskommt, zum Teil treten daher Schlüsselwechsel auf. Die Ausgabe vermeidet Transpositionen bei den Melodien, um ein klareres Bild der modalen Einordnung zu geben. Ein Quellenverzeichnis unterteilt nach Neumen- und Linienhandschriften, eine Bibliografie zum aktuellen Forschungsstand sowie ein Index der Feste und Textanfänge runden die Edition ab.
Morents Ausgabe vermittelt auf eindrucksvolle Weise die Bedeutung der liturgischen Musik im Kontext der karolingischen Bildungs- und Kirchenreform. Deutlich wird, dass sich gerade in den Sequenzen mit ihrer kreativ-individuellen Verknüpfung von Textaussage und Melodie eine spirituelle Erneuerung und Intensivierung des Glaubens manifestiert, die visuell mit einer neuartigen, kunstvollen Handschriftengestaltung korrespondiert. Morents Rekonstruktion des Melodieverlaufs beruht dabei nicht auf einer bestimmten Leithandschrift, sondern bietet eine Synthese aus früh- und spätmittelalterlicher Überlieferung, um ein möglichst authentisches Klangbild zu erzielen. Im Gegensatz zu Calvin M. Bower, der jüngst eine wissenschaftliche Edition von 49 Sequenzen Notkers vorgelegt hat (»The Liber Ymnorum of Notker Balbulus«, 2 vols., London 2016), geht Morent nur kurz auf den sogenannten Widmungsbrief Notkers im Vorwort zum »Liber ymnorum« ein, in dem der St. Galler Mönch den zugrunde liegenden kreativen und technischen Prozess der Verbindung von Sequenzmelodien – verstanden als Folge von melodischen Bewegungsausschnitten – und Sequenzdichtungen beschreibt und so zumindest einige Hinweise auf den von ihm intendierten Melodieverlauf gibt. Zusammen mit Bowers Ergebnissen eröffnen sich hier interessante vergleichende Betrachtungsweisen. Die qualitätsvoll gestaltete farbige Ausgabe lenkt zugleich den Blick auf den überaus reichen frühmittelalterlichen Handschriftenbestand einer der bedeutendsten Bibliotheken Europas.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Valeska Koal, Rezension von/compte rendu de: Notker Balbulus, Sequenzen. Ausgabe für die Praxis. Eingerichtet von Stefan Morent, übersetzt von Franziska Schnoor und Clemens Müller, hg. von der Stiftsbibliothek St. Gallen, St. Gallen (Verlag am Klosterhof St. Gallen) 2017, 174 S., zahlr. farb. Abb., ISBN 978-3-905906-25-7, CHF 24,00. , in: Francia-Recensio 2018/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.2.48324