Roland Recht, einer der renommiertesten französischen Mediävisten im Bereich der Kunstgeschichte, hat seit den 1960er Jahren weite Felder der mittelalterlichen Kunst untersucht, insbesondere für die Epoche zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert. Ein besonderer Schwerpunkt gilt dabei der französischen wie der deutschen Kunst, insbesondere aber der gotischen Architektur sowie darüber hinaus der Mittelalterrezeption in Neuzeit und Moderne. Nunmehr hat er einen Sammelband vorgelegt, der einige unveröffentlichte sowie auch bereits an anderer Stelle publizierte Beiträge vereint. Letztere sind aber in erweiterter Form bzw. – da ursprünglich in deutschen Publikationen erschienen – nunmehr in französischer Übersetzung aufgenommen (die Ersterscheinungsorte sind auf S. 329–330 verzeichnet). Die insgesamt 17 Einzelstudien sind unter fünf Oberkapitel unterschiedlicher Länge subsumiert: »1. Image de l’homme, présence de l’homme«, »2. La stylisation courtoise«, »3. La révolution gothique«, »4. L’architecture gothique chez les modernes«, »5. La muséification du Moyen Âge«. Diese Grobgliederung erscheint etwas assoziativ, hilft aber, den Charakter des Florilegiums etwas abzumildern. Insbesondere die letzten beiden Abschnitte bieten quellenreiche und sich vielfältig ergänzende (teilweise sich inhaltlich leicht überlappende) Beiträge zum Weiterleben der Gotik in Europa, einer Thematik, der insgesamt ein ganzes Drittel des Buches gewidmet ist.

Das Ganze lässt sich aufgrund der prinzipiell chronologischen Reihung der Studien am ehesten als ein annotiertes Vorlesungsskript zur Gotik und ihrer Rezeption verstehen. In den genuin dem Mittelalter gewidmeten Kapiteln schlägt die Argumentationsstruktur teilweise recht große Bögen, beruft sich dabei kenntnisreich immer wieder auf »Altmeister« des Faches (etwa Hulin de Loo und Panofsky für Jan Van Eyck, Vöge und Focillon für die gotische Portalskulptur). Die jüngere Forschung wird dabei zwar nicht ausgelassen, allerdings sehr selektiv ausgewertet; und die Diskussion von Spezialproblemen wird verständlicherweise umgangen. So ist in diesen Partien auch der Anmerkungsapparat (mit einigen Ausnahmen) schlank und übersichtlich. Abgehandelt werden etwa die Entstehung der Großskulptur, das Portrait von Kaiser Sigismund, die Bildrhetorik von Claus Sluter sowie von Nicolaus Gerhaert von Leyden, die Innen- und Außenraumdarstellungen von Jan van Eyck, die Veränderung der gotischen Wölbkunst um 1300.

Deutlich anders stellt sich dies in den Beiträgen zur Gotikrezeption dar, die eine dichte, gut ineinander gefügte Darstellung bieten. Sie ist unter anderem der Problematik des Stilbegriffs als Paradigma der kunsthistorischen Mediävistik, der neuzeitlichen und modernen Bewertung der gotischen Architektur (mehrere Artikel, unter anderem zu Goethes Gotikauffassung), der Musealisierung der gotischen Werke und dem Zusammenhang von Nationsbildung und Kunstgeschichtsschreibung in Frankreich, Italien und Deutschland gewidmet. Die Bebilderung des handlichen Buchs prunkt stellenweise durch einige großformatige Farbaufnahmen zumeist berühmter Hauptwerke, doch bleiben viele der anderen erwähnten Werke leider ohne begleitende Illustrationen.

Es würde zu weit führen, sämtliche Beiträge kritisch zu referieren, zumal die meisten bereits an anderer Stelle veröffentlicht sind. In den Studien zu den mittelalterlichen Werkkomplexen geht es häufig, den Paradigmen der älteren Forschung folgend, um die Ursprünge zentraler Themenkomplexe, etwa der Großskulptur, des lebensechten Portraits, der Landschaftsmalerei oder der spätgotischen Architektur. Ausgeblendet sind rezentere Forschungsthemen etwa zum Zusammenhang von Liturgie und Architektur bzw. Bildausstattung oder zur materiellen Kultur von Bildverwendung; in mehreren Fällen betrifft das auch einschlägige jüngere Literatur zu den abgehandelten Themen.

Wichtig erscheinen die Reflexionen über die latent nationalcharakterologischen Implikationen eines überkommenen Stilbegriffs, die R. Recht mit dem Hinweis auf bereits zeitgenössische widerständige Impulse von Originalität und dem Abweichen von stilistischer Einheitlichkeit konterkariert. Ein Essay räsoniert über die Entdeckung der Landschaftsmalerei bei Jan van Eyck, deren semantische Entleerung und perspektivische Kohärenz auf die Innenraumdarstellung im Turin-Mailänder-Stundenbuch und eine dem Maler in den Quellen zugewiesene Weltkarte bezogen wird. Anregend werden die mittelalterlichen Einstürze von Großbauten auf eine Trial-and-Error-Methode von Werkmeistern bezogen, die als Tradierungsmedium vor allem geometrische Ableitungsverfahren kannten (was indessen arithmetische Verfahren nach absoluten Längenmaßen durchaus nicht ausschließen sollte, wie das die Forschung konstatiert hat).

Kontrovers dürfte der Aufsatz zur Entwertung der antiken Säulen-Tektonik – also der Veranschaulichung des Tragens und Lastens – in der gotischen Architektur seit 1300 zu bewerten sein, eine Entwertung, die zur Homogenisierung von Pfeiler und Gewölbe seit dieser Zeit führt. Laut R. Recht werden hier der Grundstein einer sechsten der fünf klassischen Säulenordnungen gelegt. Diese als »Manierismus« bezeichnete Verschleifung von Stütze und Gewölbe bereite die Metapher der Säule als Baum vor, die von der neuzeitlichen Architekturtheorie als Begründung der Gotik entwickelt wurde. Dass bei derartigen architektonischen Veränderungen um 1300 auch bauökonomische Gründe eine Rolle spielten, wie das die jüngere Forschung diskutiert, bleibt in der vornehmlich in den Kategorien der neuzeitlichen Architekturtheorie argumentierenden Darstellung außer Acht.

In den Abschnitten zur Gotikrezeption stützt sich Recht vor allem auf literarische und kunsttheoretische Äußerungen, die in einem weiten Spektrum erfasst sind und, was die deutschen Autoren betrifft, meines Wissens teilweise zum ersten Mal in französischer Übersetzung zitiert sind. Die intensivste und meines Erachtens anregendste Studie gilt der Rezeption von Notre-Dame in Dijon vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, die zeigt, wie die Wertschätzung von konstruktiver Logik sich sehr früh mit der Ästhetik des Erhabenen verbindet. Auch überzeugt die differenzierte Kategorisierung der verschiedenen Gotikauffassungen als technisches System, Organismus oder als Utopie. Zu Recht sind hierbei auch Vertreter des 20. Jahrhunderts in die Erörterung eingeschlossen, vom Architekten Bruno Taut bis zum nationalsozialistisch belasteten Kunsthistoriker Hans Sedlmayr.

Auch wenn man nicht umstandslos allen Argumentationen des Autors folgen wird, so handelt es sich insgesamt um einen anregenden und originellen, bewundernswert breit ausgefächerten Überblick über eine »lange«, tendenziell bis heute währende gotische Kunst, die sich – zumal für ein französisches Publikum – dadurch auszeichnet, französische, deutsche und in gewissem Umfang auch italienische und englische Werkkomplexe und Forschungstraditionen gleichsam wie selbstverständlich zusammen in den Blick zu nehmen. Vor allem die Beiträge zur Rezeption der gotischen Architektur in der Neuzeit zeigen in intensiver Weise die gleichsam ununterbrochene Tradition einer technisch-konstruktiv begründeten Ästhetik des Bauens.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Christian Freigang, Rezension von/compte rendu de: Roland Recht, Revoir le Moyen Âge. La pensée gothique et son héritage, Paris (Éditions A. et J. Picard) 2016, 352 p., 107 ill., ISBN 978-2-7084-1018-3, EUR 39,00. , in: Francia-Recensio 2018/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.2.48326