Das Fragezeichen hätte der Autor sich sparen können. Dieser Band behauptet durchgängig, Frankreich sei schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Nun mag es ja immer wieder Überraschungen in der Forschung geben – steile neue Thesen, belegt durch neue Quellenfunde oder methodische Neuansätze. Davon ist aber hier nicht die Rede.

Christopher Clark hat die Diskussion um den Kriegsausbruch vor ein paar Jahren mit seinen »Schlafwandlern« bereichert und neu angeregt, und die »Somnambules« hat Bertrand Blandin auch gelesen1. Auch ansonsten hat er viel gelesen, so manches aus dem 19. Jahrhundert, weil seine These ja ist, dass der Nationalismus schuld sei an der Malaise, und der sei nunmal eine französische Erfindung, so wie vor ihm die Aufklärung auch. Aber anderes hat Blandin nicht gelesen, etwa die englischsprachige Literatur zum Thema, oder gar die deutschsprachige. Vor allem hat er keine archivalischen Quellen eingesehen. Wozu auch? Die sind ja alle schon veröffentlicht. Die deutschen beispielsweise zitiert er dann auch, allerdings nach dem deutschen »Livre blanc« (1915), wobei er schamhaft verschweigt, dass es sich um eine Propagandapublikation handelt. So genau hat es Blandin, professeur d'histoire au lycée Eiffel de Dijon, dann wohl doch nicht wissen wollen.

Man müsse ja auch Nachsicht üben, schreibt er. Deutschland und Italien seien 1914 noch recht junge Staaten gewesen, wogegen Frankreich und England schon über 1000 Jahre alt gewesen seien (S. 22 f.). Wirklich? Nun gut, wenn man unter »Angleterre« wirklich jene Kleinkönigreiche versteht, die um 900 die britischen Inseln bevölkerten, und sich die Schotten genauso wegdenkt wie die Waliser … von Irland ganz zu schweigen. Solche schiefen Vergleiche finden sich allenthalben. Um nur einen weiteren zu nennen: Frankreich beschreibt Blandin als eine »nation en arme«; als Reaktion auf den verlorenen Krieg von 1870/71 sei dort das System der Volksschulen entstanden, deren wesentlicher Zweck darin bestanden habe, die Jugend auf den Krieg vorzubereiten (S. 132).

Die deutsche Seite habe einen Schlieffenplan für den Aufmarsch gegen Frankreich gehabt, dessen interne Mechanismen so waren, dass militärische Notwendigkeiten eine vorzeitige Entscheidung zum Krieg notwendig gemacht hätten: So lehrte es Gerhard Ritter und baute darauf seine These vom preußisch-deutschen Militarismus auf. Deutschland habe expansive Kriegsziele verfolgt, behauptete Fritz Fischer in einer berühmt gewordenen Kontroverse. Aber den »Griff nach der Weltmacht« kennt Blandin natürlich nicht. Gab es einen Schlieffenplan? Terence Zuber hat behauptet, es habe ihn nie gegeben2. Leider hat er es nicht auf Französisch behauptet, sonst hätte Blandin es vielleicht gelesen. Hat er aber nicht – schade. Auch die von Gerhard P. Groß und anderen besorgte umfangreiche Aufsatzsammlung zum Thema ist auf Deutsch und Englisch erschienen (bei der englischen Ausgabe hat Zuber allerdings bereits seine Zustimmung zur Wiederholung seiner Thesen verweigert) – und nicht auf Französisch, so dass Blandin auch auf diesem Auge blind bleibt 3.

Frankreich war nicht nur die Grande Nation des Nationalismus, so Blandin, sondern auch geführt von Vertretern des Antiklerikalismus und, jawohl, der Freimaurerei. In Österreich dagegen waren die Freimaurer verboten. Daraus zog, wenn man Blandin glauben will, die französische Republik ihre moralische Rechtfertigung, gegen Deutschland und Österreich Krieg zu führen. Man könnte seitenweise ähnlich gewagte Thesen referieren, es würde nicht besser.

Der Versailler Vertrag hat die Kriegsschuld einseitig und ausschließlich Deutschland angelastet. So würde es kein ernstzunehmender Historiker heute mehr darstellen. Natürlich hatte auch die französische Politik ihren Anteil an der Verantwortung. Aber doch nicht sie allein! So platt, methodisch unsauber, ohne jede tragfähige Quellenbasis und vor allem ohne Kenntnis der einschlägigen Literatur, wie Blandin es hier tut, lassen sich revolutionär neue Thesen nicht aufstellen. Dieses ist ein schlechtes Buch; man würde sich genieren, es irgendwo zu zitieren.

1 Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe went to War in 1914, London 2012; besprochen im Literaturbericht von Arndt Weinrich, »Großer Krieg«, große Ursachen? Aktuelle Forschungen zu den Ursachen des Ersten Weltkriegs, in: Francia 40 (2013), S. 233–252, hier S. 241–245.
2 Terence Zuber, Inventing the Schlieffen Plan, Oxford 2003; ders., The Real German War Plan, 1904–14, Gloucestershire 2011.
3 Hans Gotthard Ehlert, Michael Epkenhans, Gerhard Paul Gross (Hg.), Der Schlieffenplan. Analysen und Dokumente, Paderborn u.a. 2006 (Zeitalter der Weltkriege, 2); dies. (Hg.), The Schlieffen Plan. International Perspectives on the German Strategy for World War I, Lexington, KY 2014.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Winfried Heinemann, Rezension von/compte rendu de: Bertrand Blandin, 1914, la France responsable?, Paris (Éditions de l’Artilleur) 2016, 361 p. (Enquête + Histoire), ISBN 978-2-81000-759-2, EUR 22,00., in: Francia-Recensio 2018/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.2.48466